Mortalität Warum ist die Übersterblichkeit so hoch?
2022 sind im Verhältnis zu den Vorjahren bisher ungewöhnlich viele Menschen gestorben. Besonders der Oktober war ein Ausreißer. Allein durch Corona lässt sich das laut Experten nicht erklären.
Mehr als 90.000 Menschen sind in Deutschland nach Hochrechnungen des Statistischen Bundesamts (Destatis) im Oktober dieses Jahres gestorben - 19 Prozent mehr als der Median für die Jahre 2018 bis 2021. Der Oktober ist damit bislang der Höhepunkt einer Entwicklung, die sich auch in den vorangegangenen Monaten erkennen lässt: die hohe Übersterblichkeit im Jahr 2022.
Eine Entwicklung, die auch Experten bislang nicht eindeutig erklären können - und die somit Tür und Tor öffnet für Spekulationen. So stellte unter anderem der AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Sichert die Frage nach einem möglichen Zusammenhang mit den "Corona-Massenimpfungen", in anderen Telegram-Kanälen wurden die Impfungen bereits als definitive Ursache ausgemacht. Dabei ist es für eindeutige Aussagen noch viel zu früh, wie Experten betonen.
"In den ersten Pandemiejahren konnten wir relativ sicher sein, dass Corona-Infektionen für die Übersterblichkeit gesorgt haben", sagt Sebastian Klüsener, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB). "Es war ein starkes statistisches Signal, welches durch die Corona-Wellen mit Bezug auf die Sterblichkeit gesendet wurde. Momentan ist es viel schwieriger."
Atemwegserkrankungen als Ursache?
Auch die Sterbefallzahlen im Oktober ließen sich zum Teil durch die Corona-Toten erklären - aber eben nicht nur. Schließlich sind im Oktober nach Angaben des Robert Koch-Instituts insgesamt 4334 Menschen in Deutschland an oder mit Corona gestorben, deutlich mehr als in den Vorjahren (2021: 2493; 2020: 1482). Auch in den Sommermonaten, in denen es ebenfalls eine Übersterblichkeit gab, starben in diesem Jahr deutlich mehr Menschen an oder mit Corona als in den Jahren davor.
Allerdings ist der Anstieg an Corona-Toten allein nicht ausreichend, um die hohen Zahlen für den Oktober zu erklären, sagt Jonas Schöley, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Gesundheitszustand der Bevölkerung am Max-Planck-Institut für Demografische Forschung in Rostock. "Die Corona-Toten erklären nur noch ungefähr die Hälfte dessen, was wir im Oktober gesehen haben." Für die andere Hälfte gebe es mehrere mögliche Gründe.
"Ich finde die offensichtlichste Erklärung ist, dass wir eine relativ frühe Welle von Infektionskrankheiten in diesem Jahr sehen", sagt Schöley. Denn anders als in der Vergangenheit habe es bereits im Oktober eine hohe Zahl an Atemwegserkrankungen wie der Grippe gegeben. "Was wir sehen, sind zeitlich synchron zwei Entwicklungen: Einerseits die Corona-Sterbefälle, die im frühen Herbst bis zum Oktober angestiegen sind. Andererseits die Atemwegsinfektionen, die ebenfalls stark angestiegen sind."
Schöley weist jedoch darauf hin, dass sich anhand der Sterbefallzahlen lediglich Assoziationen herstellen ließen, keine kausalen Zusammenhänge. Die wahre Todesursache könnten letzten Endes nur die behandelnden Ärzte bestimmen. "Für mich ist das jedoch ein offensichtlicher Zusammenhang, weil es das ist, was wir auch vor der Pandemie gesehen haben. Wenn wir vor Corona Übersterblichkeit im Winter gesehen haben, dann haben wir es hauptsächlich auf Infektionskrankheiten zurückgeführt." Ungewöhnlich sei, dass die Welle der Infektionskrankheiten bereits so früh eintrat.
Übersterblichkeit im Sommer wirft Fragen auf
Das sieht auch Forschungsdirektor Klüsener vom BiB so: "Früher war es so, dass wir die höchste Sterblichkeit klar im Winter verzeichnet haben. Dabei verursachten Grippewellen starke Schwankungen. "Mal waren die Sterbezahlen im Februar verhältnismäßig gering, weil eben keine starke Grippewelle ausgebrochen war. Und manchmal waren sie im Februar sehr hoch, weil es eine starke Grippewelle gab."
Auf hohe Sterbefallzahlen folgten dann in der Regel jedoch eher niedrigere in den Folgemonaten, sagt Klüsener. Denn Sterblichkeitsereignisse, wie zum Beispiel eine Grippewelle, sorgten dafür, dass gerade gesundheitlich anfällige Menschen vermehrt sterben. Daraufhin sänken dann in der Regel die Sterbefallzahlen wieder, da es zunächst weniger gesundheitlich anfällige Menschen gebe als vor dem Ereignis.
Die Saisonalität der Sterblichkeit habe sich jedoch verändert. "Was wir jetzt vermehrt sehen, ist, dass auch andere Monate eine hohe Sterblichkeit aufweisen", sagt Klüsener. Beispielsweise sind auch in den Sommermonaten mehr Menschen gestorben als in den Vorjahren. Die Prognosen der erwartbaren Sterbefälle würden dadurch schwieriger werden, weil sich die saisonalen Muster verschieben.
"Sommer ist mir unklarer als der Oktober"
"Der Sommer ist mir unklarer als das, was im Oktober passiert ist", sagt Schöley. Ein Teil davon lasse sich durch Hitzewellen erklären: "Hitze und Übersterblichkeit korrelieren sehr, sehr deutlich." Ein anderer Teil ließe sich durch die Corona-Toten erklären. Aber das zusammen reiche nicht aus. "Es ist nicht unplausibel anzunehmen, dass wir etwas deutlicher vielleicht die indirekten Effekte der Pandemie sehen."
Schöley meint damit unter anderem ein möglicherweise überlastetes Gesundheitssystem als Folge der stressigen Pandemie-Zeit. Das sei jedoch alles spekulativ.
Eine Korrelation zwischen der Corona-Impfung und der Übersterblichkeit hält Schöley hingegen für nahezu ausgeschlossen. "Als Wissenschaftler will ich mir alle Möglichkeiten offenhalten, aber ich sehe einfach keinen Zusammenhang." Zudem sei die wissenschaftliche Evidenz bei der Bewertung von Impfstoffen deutlich stärker als in der Bevölkerungsforschung. "Wir sind aufgrund der sehr guten Studienlage zur Wirksamkeit und Risiken der Impfung nicht auf die fehleranfällige Ursachensuche in Bevölkerungsdaten angewiesen." Würden die Impfstoffe zu einer erhöhten Todesfallzahl führen, wäre dies längst in der medizinischen und epidemiologischen Forschung nachgewiesen worden.
Verlässlichere Angaben zu den Hintergründen der Sterbefallzahlen ließen sich nach Angabe der Experten erst machen, wenn die Todesursachen bekannt sind. Diese Daten stehen jedoch erst mit einigen Monaten Verzögerung zur Verfügung. Erst dann lässt sich nach Ansicht der Experten erklären, wie es zu einer Übersterblichkeit in einem bestimmten Monat kommen konnte. "Es wäre für sachliche Debatten ohne Verschwörungsmythen sehr hilfreich, wenn diese Daten früher verfügbar wären. Dann könnten wir schnell fundierte Erklärungen für aktuelle Sterblichkeitstrends liefern", sagt Klüsener.
Wie kommen die Zahlen zustande?
Dass die Übersterblichkeit in Deutschland überhaupt von Destatis für die einzelnen Wochen und Monate ausgewiesen wird, ist erst seit der Corona-Pandemie der Fall. Destatis greift dabei auf die Sterbefallmeldungen aus den Standesämtern zurück, sagt Felix zur Nieden, Experte für Sterbefallzahlen und Demographie bei Destatis.
Für die Über- oder Untersterblichkeitsstatistik werden im nächsten Schritt die absoluten Sterbefallzahlen eines Monats mit dem Median der vier Vorgängerjahre für den Monat verglichen. Liegt der Wert über dem Median, ist von einer Übersterblichkeit die Rede, liegt er darunter, von einer Untersterblichkeit.
Der Median ist der Wert, der genau in der Mitte einer Datenreihe liegt, die nach der Größe geordnet ist. Er wird auch Zentralwert genannt, weil gleich viele Daten darunter wie darüber liegen. Er hat den Vorteil, dass der Einfluss einzelner extremer Ausreißer auf eine Statistik reduziert wird. Der Median ist dabei nicht zu verwechseln mit dem arithmetischem Mittelwert, bei dem einfach der Durchschnitt aller Daten errechnet wird.
Der Zeitraum von den vier Vorgängerjahren wurde laut zur Nieden gewählt, um dabei das unterschiedliche Ausmaß von saisonal wiederkehrenden Ereignissen wie Grippe- oder Hitzewellen zu berücksichtigen. Je länger der Vergleichszeitraum zurückreiche, desto größer würden jedoch andere Faktoren wie die Alterung oder der Anstieg der Lebenserwartung auf die Entwicklung der Sterbefallzahlen Einfluss nehmen. "Die vier Jahre sind ein Kompromiss, um verschiedene Faktoren möglichst auszugleichen", sagt zur Nieden.