Feuerwerksraketen explodieren in der Silvesternacht von 2018 auf 2019 über der Innenstadt von München.
Kontext

Feinstaub und Co. Wie schlimm ist Böllern für Mensch und Umwelt?

Stand: 29.12.2022 06:26 Uhr

Feinstaub, ängstliche Tiere, volle Krankenhäuser: Jedes Jahr wird pünktlich zum Jahreswechsel über die Auswirkungen von Feuerwerkskörpern diskutiert. Aber wie gravierend sind die Folgen des Böllerns wirklich?

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Die einen können es kaum erwarten, für andere ist es ein Ärgernis: Böllern an Silvester. Von heute an bis zum 31. Dezember sind Feuerwerkskörper in Deutschland wieder auf dem Markt - und damit zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahren. Grund für das Verkaufsverbot von Pyrotechnik in den Jahren 2020 und 2021 war die Corona-Pandemie, in denen die ohnehin schon vollen Krankenhäuser nicht weiter belastet werden sollten. Dieses Jahr gelten keine Einschränkungen - und dennoch bleibt das Thema Böllern heiß diskutiert.

Denn auch wenn die Zahl der Corona-Patienten in den Krankenhäusern im Vergleich zu den Vorjahren deutlich geringer ist, gibt es davon unabhängige Faktoren, auf die die Verfechter eines Böller-Verbots regelmäßig verweisen. Aber was ist an den einzelnen Punkten dran?

Dreimal mehr Schwerstverletzte an Silvester

"Dass die Krankenhäuser in der Silvesternacht besonders stark belastet sind, ist allen bewusst", sagt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß. "Jedes Jahr fordert die Mischung aus Alkohol, meist männlichem Übermut und gefährlicher Pyrotechnik Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und Sanitäterinnen und Sanitäter heraus."

Einer Auswertung der DKG zufolge ist die Zahl der durch Feuerwerk verletzten Menschen durch das Böller-Verkaufsverbot um rund zwei Drittel gesunken. Am 1. Januar 2020 seien 111 Schwerstverletzte stationär behandelt worden, im Jahr darauf nur noch 32. "Während sich in den Vorjahren die Zahl der Feuerwerksverletzten am Neujahrstag verdreifacht hat, war der 1. Januar 2021 mit 32 Aufnahmen ein durchschnittlicher Tag", schreibt die DKG dazu. Im Jahr 2019 beispielsweise gab es insgesamt 10.137 Schwerstverletzte in den Krankenhäusern - durchschnittlich knapp 28 pro Tag. Am Neujahrstag waren es jedoch auf einen Schlag 111, mehr als dreimal so viel.

Verbrennungen und verlorene Gliedmaßen

Das bestätigt auch Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Die Menschen, die Silvester oder an den Tagen danach auf der Intensivstation behandelt werden müssten, litten beispielsweise an Verbrennungen oder dem Verlust von Gliedmaßen. "Die meisten Verletzungen passieren außerhalb der Norm, mit selbstgebastelten oder nicht zugelassenen Böllern."

Auch die Notaufnahmen seien an Silvester deutlich voller. "Wenn viele Menschen feiern, dann gibt es natürlich auch vermehrt Patienten, die versorgt werden müssen", sagt Marx. Explodiert ein Böller zu nahe am Ohr, kann der hohe Schalldruck beispielsweise ein sogenanntes Knalltrauma auslösen. Eine Untersuchung des "Deutschen Ärzteblatts" aus dem Jahr 2001 zufolge erleiden jährlich etwa 8000 Menschen zu Silvester Schädigungen des Innenohrs durch Feuerwerkskörper.

In den vergangenen beiden Jahren sei es zumindest aus dieser Sicht deutlich entspannter gewesen - was angesichts der vielen Corona-Patienten jedoch auch dringend notwendig gewesen sei. Doch auch für dieses Jahr appelliert Marx an den gesunden Menschenverstand beim Böllern: "Wir haben derzeit einen ungeheuren Krankenstand im Personal. Dadurch können wir im Moment weniger Patienten versorgen. Und natürlich freuen wir uns über jeden Menschen, der gesund ins neue Jahr startet und nicht zwingend notwendig auf unsere medizinische Hilfe angewiesen ist."

Gut 2000 Tonnen Feinstaub werden freigesetzt

Eine unmittelbare Folge des Abbrennens von Feuerwerkskörpern an Silvester ist zudem die Freisetzung von Feinstaub. Nach Angaben des Umweltbundesamts wurden in den Jahren vor 2020 etwa 2050 Tonnen Feinstaub (PM10) rund um den Jahreswechsel durch das Abbrennen von Feuerwerkskörpern freigesetzt - und damit innerhalb kürzester Zeit etwa ein Prozent der jährlich insgesamt freigesetzten Feinstaubmenge in Deutschland. Bei PM2,5 liegt der Anteil sogar bei zwei Prozent. Vor allem in Großstädten seien PM10-Stundenwerte von 1000 µg/m³ an Silvester keine Seltenheit - im Vergleich liege die mittlere PM10-Konzentration in deutschen Städten im Jahr bei etwa 18 µg/m³.

Was ist Feinstaub?

Als Feinstaub werden kleine Teilchen in der Luft bezeichnet, die nicht sofort zu Boden sinken, sondern eine gewisse Zeit in der Luft schweben. Feinstaub wird in mehrere Größenkategorien unterteilt: PM10 (von englisch Particulate Matter, zu deutsch Feinstaubpartikel), PM2,5 und PM1. PM10 gibt an, dass ein Feinstaubpartikel einen Durchmesser von weniger als zehn Mikrometern (0,01 Millimeter) hat. Eine Teilmenge davon sind PM2,5 und PM1, deren Durchmesser weniger als 2,5 beziehungsweise einen Mikrometer beträgt.

Für die EU-Mitgliedsländer gelten mit Blick auf Feinstaubbelastung folgende Grenzwerte für PM10: Im Tagesmittelwert darf an maximal 35 Tagen im Jahr die Marke von 50 μg/m³ überschritten werden, der Jahresmittelwert darf nicht über 40 μg/m³ liegen. Bei PM2,5 darf der Jahresmittelwert nicht 20 μg/m³ überschreiten. PM1 wird noch nicht routinemäßigen erfasst und hat daher auch keine eigenen Grenzwerte.

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat 2019 in einer Stellungnahme für die damalige Bundesregierung unter anderem die gesundheitlichen Gefahren von Feinstaub analysiert. Dort wird zwischen kurzfristiger und langfristiger Feinstaubbelastung unterschieden. "Bei kurzfristiger Belastung kommt es zu einem Anstieg der täglichen Sterberate um 0,4 Prozent bis 1,0 Prozent pro Anstieg der täglichen PM10-Belastung um 10 Mikrogramm pro Kubikmeter (µg/m³). Außerdem werden mehr Menschen wegen Asthmaanfällen, Herzinfarkten, Herzinsuffizienz oder Schlaganfällen ins Krankenhaus eingewiesen."

Vor allem für vorerkrankte Menschen wie Asthmatiker kann bereits eine kurzzeitig hohe Feinstaubbelastung gefährlich werden. Denn über die Luft kann Feinstaub in die Lunge gelangen - und zwar umso tiefer, je kleiner die Partikel sind.

Wetter spielt eine wichtige Rolle

Wie schnell die Feinstaubbelastung nach dem Silvesterfeuerwerk wieder abschwächt, hängt vor allem von den Wetterverhältnissen ab, sagt Achim Dittler, Leiter der Arbeitsgruppe Gas-Partikel-Systeme am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Auch das Umweltbundesamt weist darauf hin. Günstig seien etwa Wind und Regen. Bei einer Hochdruckwetterlage hingegen könne sich der Feinstaub bis zu einigen Tagen in der Luft halten.

Aus Sicht von Dittler ist jedoch der Anteil der Feinstaubbelastung durchs Feuerwerk mit Blick auf das gesamte Jahr zu vernachlässigen. "Lokal oder regional kann die Belastung an ein, zwei Tagen sehr hoch sein", sagt er. "Im Vergleich jedoch zu dem, was Menschen in Wohngebieten an viel mehr Tagen im Jahr zum Beispiel durch Holzöfen ausgesetzt sind, spielt die Belastung durch Feuerwerkskörper eine untergeordnete Rolle."

Auch das Bundesumweltministerium legt den Fokus beim Thema Feinstaub eigenen Angaben zufolge auf Maßnahmen in Sektoren, die "ganzjährig und überregional zur Senkung der Feinstaubbelastung beitragen", wie ein Sprecher auf Anfrage des ARD-faktenfinders mitteilt. Das Thema Feuerwerk sei wegen Faktoren wie Wetterverhältnisse und Menge der abgebrannten Feuerwerkskörper eine "sehr lokale Frage". "Die Kommunen sind in der besten Position, hier eine Entscheidung zu treffen. Sie sollen selbst entscheiden können, ob sie Feuerwerk zulassen wollen oder nicht."

In den vergangenen beiden Jahren mit dem Böller-Verkaufsverbot sind die Feinstaubemissionen zum Jahreswechsel deutlich zurückgegangen: Nach Angaben des Umweltbundesamts entsprachen sie etwa einem durchschnittlichen Tag. Für weitere Luftschadstoffe wie Stickstoffdioxid oder Ozon würden die Messstationen generell keine signifikanten Auffälligkeiten durch das Abbrennen von Feuerwerkskörper zeigen. Auch die CO2-Emissionen aus Feuerwerkskörpern sind nach Schätzungen des Umweltbundesamtes nur von geringer Bedeutung - ihr Anteil an den jährlichen Treibhausgasemissionen im Land liegt bei 0,00013 Prozent.

Feuerwerk sorgt bei Tieren für Stress

Doch nicht nur Menschen können durch Feuerwerkskörper zu Schaden kommen. Auch für die Tierwelt bedeuteten vor allem die lauten Knallgeräusche Stress, sagt Barbara Kohn von der Klinik für kleine Haustiere am Fachbereich Veterinärmedizin der FU Berlin. "Viele Tiere fürchten sich vor lauten Geräuschen. Es ist auch nicht so, dass sie sich daran gewöhnen. Unter Umständen wird die Panik jedes Jahr größer." Bei Haustieren sei daher wichtig, sie an Silvester nicht alleine zu lassen und die Fenster zu schließen. Notfalls könne nach Absprache mit einem Tierarzt auch ein Beruhigungsmittel helfen.

Bei Wildtieren ist das alles nicht möglich. Dabei ist Silvester für sie mindestens genauso stressig wie für Haustiere, sagt Stephanie Zein, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Heim- und Wildtiere an der FU Berlin. Das betreffe Vögel genauso wie Säugetiere. "Bei Tieren, die sich in der Winterruhe befinden oder Winterschlaf halten, besteht die Gefahr, dass sie geweckt werden oder aufschrecken." Dadurch könne ihr Stoffwechsel angeregt werden und der Energieverbrauch steigen - und das beim geringen Nahrungsangebot im Winter.

Bei Vögeln führe Feuerwerk etwa dazu, dass sie aufschrecken und versuchen zu fliehen. "Dabei besteht die Möglichkeit, dass sie einfach orientierungslos umherirren und dabei zum Beispiel gegen Scheiben fliegen", sagt Zein. "Es kann auch sein, dass sie ihre eigentlichen Ruheorte mit der Angst in Zusammenhang bringen und diese daher meiden." Es sei jedoch nicht nur der Lärm, auch die Lichteffekte und die Umweltverschmutzung durch die Silvesternacht hätten unmittelbare Folgen für die Tiere.

Wildgänse essen nach Silvester mehr

Auch längerfristig hat das Feuerwerk an Silvester Auswirkungen für Wildtiere. Einer internationalen Studie unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Konstanz und des Niederländischen Instituts für Ökologie zufolge fraßen Wildgänse auch viele Tage nach Silvester bis zu zehn Prozent länger und bewegten sich tagsüber deutlich weniger. Die Studienautoren vermuten, dass dies mit dem hohen Energieverbrauch zusammenhängt, da die Vögel in der Silvesternacht ihre Nachtruhe deutlich verkürzen und zudem höher und weiter fliegen als üblich.

"Die Zeit, die die Vögel in der Silvesternacht zusätzlich geflogen sind, macht ungefähr fünf bis zehn Prozent ihres normalen täglichen Energiebedarfs aus", sagt Andrea Kölzsch vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie, eine der Studienautoren. "Das klingt nicht nach viel, aber an den kürzesten Tagen des Winters ist es für die Vögel nicht einfach, mehr zu fressen. Wenn es ein kalter, strenger Winter ist, können sie Probleme dadurch bekommen."

Eine Studie aus dem Jahr 2015 kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass das Böllern an Silvester zu erheblichen Verhaltensänderungen bei Wildvögeln führen kann. Nach Angaben von Kölzsch hat dabei auch das Böller-Verkaufsverbot in den Corona-Jahren nicht viel geändert. "Wir haben trotzdem eine deutliche Reaktion gesehen. Ich würde daraus schließen, dass es für die Vögel unerheblich ist, ob jetzt 100 Raketen in die Luft gehen oder nur 30."

Und auch Nutztiere wie Kühe reagieren vor allem auf den Lärm, sagt Kerstin Müller von der Klinik für Klauentiere am Fachbereich Veterinärmedizin der FU Berlin. "Es wurde festgestellt, dass Lärm eine Stressantwort bei den Tieren auslöst, die zur Verminderung der Futteraufnahme und der Wiederkauaktivität führen kann." Kurzfristige Lärmbelastung würde vor allem Panikreaktionen auslösen: "Das äußert sich zunächst in einer Fluchtreaktion. Darauf folgt ein etwa dreißigminütiges starres Stillstehen in der Gruppe. Solch ein Verhalten wurde auch von Landwirten berichtet, deren Rinder nahegelegenem Feuerwerk ausgesetzt waren."

Lothar Lenz, Lothar Lenz, ARD Berlin, 29.12.2022 06:37 Uhr