Aussage zu Ukrainern Wie Merz Kreml-Propaganda verbreitete
Ukrainer würden zwischen der Ukraine und Deutschland hin und her pendeln, um Sozialleistungen zu kassieren - behauptete CDU-Chef Merz. Recherchen von Monitor zeigen: Verbreitet wurde das Gerücht von pro-russischen und rechtsextremen Kanälen.
Seit einem Interview mit "Bild-TV" am 26. September war das Wort plötzlich in aller Munde: "Sozialtourismus". CDU-Chef Friedrich Merz hatte es mit Blick auf Geflüchtete aus der Ukraine benutzt: "Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine." Eine "größere Zahl" mache sich dieses System inzwischen zunutze. Merz stellte fest: "Da haben wir ein Problem, das wird größer."
Die Wellen schlugen hoch: "Schäbig", fand Innenministerin Nancy Faeser die Äußerung, Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann warf Merz vor, sich mit Methoden von Rechtspopulisten profilieren zu wollen. Merz entschuldigte sich für seine Wortwahl. Er habe niemandem zu nahe treten wollen, blieb aber dabei, dass es zunehmende Probleme mit einer steigenden Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern auch aus der Ukraine gebe.
Russische Medien nahmen den Ball auf: Sie verbreiteten die Meldung von Merz' Vorwurf und seiner Entschuldigung: "In Deutschland empört man sich über die ukrainischen Flüchtlinge", meldete etwa die staatliche Nachrichten-Agentur RIA Novosti. Und der kremlnahe Sender TSARGRAD-TV des Oligarchen Konstantin Malofeev titelte: "Friedrich Merz - erst hat der deutsche Politiker geschimpft, dann wurde er gezwungen, es zu bereuen."
Merz im Dienste russischer Propaganda?
"Russische Medien haben Friedrich Merz am Ende als Zeuge präsentiert für zwei Desinformationsnarrative des Kremls", sagt der Berliner Kommunikations- und Politikberater Johannes Hillje. "Erstens für die Behauptung, dass ukrainische Geflüchtete Betrüger seien, und zweitens, dass in Deutschland freie Meinungsäußerung nicht mehr möglich wäre." Damit sei Friedrich Merz - gewollt oder nicht - letztendlich "im Dienste russischer Propaganda" unterwegs. Woher Merz seine Informationen zum angeblichen "Sozialtourismus" ukrainischer Geflüchteter hat, ist unklar. Auf Monitor-Anfrage wollte er sich nicht dazu äußern.
Telegram-Sprachnachricht als Auslöser
Doch woher stammen die Behauptungen überhaupt und wer hat sie verbreitet? Begonnen haben dürfte alles mit einer Sprachnachricht am 10. September im Messengerdienst Telegram. Unter dem Titel "Organisierter Betrug" wird von einem anonymen Nutzer behauptet, ukrainische Flüchtlinge würden regelmäßig mit dem Busunternehmen Flixbus in ihre Heimat reisen: "Die Flixbusse sind auf über zwei Wochen im Voraus ausgebucht, weil die Ukrainer mit dem Flixbus nach Deutschland pendeln, hier zum Amt gehen, sich melden, Hartz-IV beziehen und dann mit dem Flixbus wieder zurückfahren."
Die Nachricht wird Tausendfach abgerufen - und kommentiert: "Plünderung des Sozialsystems mit Ansage", schreibt ein User. Ein anderer: "Ganz umsonst ist der Service nicht - auch das bezahlt der deutsche Steuerzahler."
Josef Holnburger, Geschäftsführer beim Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), hat untersucht, wie das, was als schlichte Sprachnachricht begann, immer weitere Kreise zog: "Es hat erstmal ein paar Tage nicht so große Kanäle erreicht, es wurde dann aber mit der Zeit von reichweitenstärkeren, vor allem pro-russischen Kanälen auf Telegram geteilt."
Kanälen, wie "Neues aus Russland" - betrieben von der Putin-treuen Influencerin Alina Lipp. Rund 180.000 Follower hat ihr Kanal, auf dem sie pro-russische Propaganda verbreitet. Lipp erklärt den vermeintlichen Sozialbetrug zum Massenphänomen: "Ukrainer sollen massenweise per Flixbus nach Deutschland fahren, Sozialhilfe kassieren und wieder zurück in die Ukraine fahren", schreibt sie. Auch eine Führungsfigur der rechtsextremen "Identitären Bewegung" verbreitete die Nachricht und sprach von "Sozialleistungs-Tourismus", ein Begriff, der sich nur unwesentlich von Merz' späterer Wortwahl unterscheidet.
Putins Erfüllungsgehilfen?
Holnburger bezeichnet solche Kanäle als "Erfüllungsgehilfen". Sie erreichten mit einer Nachricht auf Telegram bis zu 200.000 Menschen: "Das sind Menschen, die die Desinformation für den Kreml oft erfinden und weiter verbreiten." Sie stünden nicht unbedingt auf der Gehaltsliste des Kremls, "sondern machen das auch aus einer eigenen Motivationen heraus, weil sie zum Beispiel den Angriffskrieg auf die Ukraine als richtig empfinden."
Gibt es überhaupt irgendwelche Belege für die Behauptung von einem angeblich massenhaften "Sozialtourismus"? Im Netz reichen vielen die auf Tage, teils Wochen hinaus ausgebuchten Flixbusse in Richtung Kiew als Beleg. Doch reicht das aus?
Flixbus antwortet auf Monitor-Anfrage: Zwar sei die Nachfrage nach Reisen in die Ukraine noch immer sehr hoch, aber: "Zum Vorwurf des 'Sozialtourismus' von Herrn Merz liegen uns keinerlei Hinweise vor." Zählungen an den Grenzübergängen zeigen zudem: Nach Rückzug der russischen Armee aus Teilen der zuvor besetzten Gebiete, hat der Rückreiseverkehr in die Ukraine deutlich zugenommen.
Fakt ist: Seit dem 1. Juni haben Geflüchtete aus der Ukraine Anspruch auf Grundsicherung und beziehen damit Leistungen wie Hartz-IV-Bezieher. Zuständig für die Antragsbearbeitung sind die Jobcenter bei der Bundesagentur für Arbeit.
Kein Hinweis auf Missbrauch von Sozialleistungen
Doch auch die Jobcenter können keinen Beleg für einen behaupteten "Sozialtourismus" finden. Die Jobcenter ergriffen "regelmäßig zahlreiche Maßnahmen, um potenziellen Leistungsmissbrauch aufzudecken", schreibt die Bundesagentur auf Anfrage: Unter anderem interne Datenabgleiche und solche mit anderen Behörden, Kontrollbesuche an der Meldeadresse durch Außendienstmitarbeiter. Ergebnis: "Die Bundesagentur für Arbeit hat aktuell keine Anhaltspunkte über einen 'Sozialtourismus' nach Deutschland."
Eine Umfrage unter den 16 deutschen Landesregierungen führt diesbezüglich ebenso ins Leere. 13 Landesregierungen haben auf Monitor-Anfrage geantwortet. Die Antworten gleichen sich. Zum angeblich verbreiteten Sozialbetrug durch Pendelverkehr zwischen Deutschland und der Ukraine schreibt etwa die Sprecherin des Innenministeriums von Mecklenburg-Vorpommern, es lägen "keine belastbaren Erkenntnisse vor".
Im Ergebnis gibt es also keinerlei belastbaren Belege für die Behauptung von Merz, an der er im Kern nach wie vor festhält - und die von Kreml-nahen und extrem rechten Medien gezielt verbreitet werden.