Straßenszene in London am Piccadilly Circus.
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Wahl in Großbritannien Wie Videos und KI Angst vor Migranten schüren sollen

Stand: 04.07.2024 16:33 Uhr

In Großbritannien war eines der Hauptthemen des Wahlkampfs Migration. Mit aus dem Kontext gerissenen Videos und KI-Bildern wurde auf Social Media Stimmung gemacht - mit einer perfiden Strategie.

Von Elisabeth Kagermeier, Redaktion ARD-faktenfinder

Wenn die Briten heute ein neues Parlament wählen, spielt für viele sicher auch ein Thema eine Rolle, das im Wahlkampf auf den politischen Bühnen und in den sozialen Medien dauerhaft präsent war: Migration. Für die Konservativen um Premierminister Rishi Sunak war sie zentral, Nigel Farages rechte Partei Reform UK wurde mit ihrer großen Anti-Immigration-Kampagne laut Politikexperten fast zu einer "Ein-Thema-Partei".

Gleichzeitig beobachteten Medienforscher, dass sich besonders zu Einwanderern und Muslimen Falschinformationen und manipulative Inhalte verbreiteten - oft mit "rassistisch aufgeladenen Bildern und Rhetorik", sagt Andrew Chadwick, Professor für politische Kommunikation an der Loughborough University. Er forscht zu Desinformation und Wahlkämpfen. Laut einer Untersuchung der NGO "Global Witness" wurden allein die Posts von zehn Desinformations-Accounts auf der Plattform X 150 Millionen Mal gesehen.

Video zeigt nicht Bradford, sondern Hyderabad in Pakistan

Ein häufiges Beispiel: Videos, die aus dem Kontext gerissen werden oder von ganz anderen Orten stammen, als behauptet. Eine Aufnahme ging auf verschiedenen Plattformen viral und wurde zigfach geteilt: Sie zeigt eine geschäftige Einkaufsstraße, die Frauen tragen Hijab und Niqab, von ihren Gesichtern sind nur die Augen zu sehen.

Eine Ortsmarke im Bild soll zeigen, dass das Video angeblich im britischen Bradford aufgenommen sei. Doch das stimmt nicht: Das Video zeigt einen Basar in der pakistanischen Stadt Hyderabad. Exakt die gleiche Videoszene findet sich auch im Video einer Reise-YouTuberin:

Screenshot Tiktok: Verschleierte Frauen

Virale Videos zeigen Szenen aus einer Einkaufsstraße - die liegt aber in Pakistan.

Screenshot Youtube: Verschleierte Frauen in Pakistan

Das Originalvideo stammt von einer Travelbloggerin.

Jährliche religiöse Prozession statt Shoppingtrip

Häufig werden auch Videos von muslimischen Riten geteilt, die als britische Alltagsszenen dargestellt werden. Wie ein Beispiel aus London: Zu sehen ist eine Szene aus einer Einkaufsstraße voller verschleierter Frauen in schwarzer Kleidung. "This is not Iran, this is Oxford Street London" (auf deutsch: "Das ist nicht der Iran, das ist die Oxford-Straße in London"), steht als Text im Video, bei einer anderen Version "Who doesn’t want to go shopping there" - "Wer will hier nicht einkaufen gehen?"

An Plakaten mit der Aufschrift "Oxford Street District" und den typischen roten Doppeldeckerbussen erkennt man, dass das Video tatsächlich London zeigt - allerdings während einer Prozession, die einmal im Jahr stattfindet. Bei dem islamischen Fest Aschura gedenken Schiiten dem Imam Husain, Enkel des Propheten Mohammed und im Islam ein verehrter Märtyrer.

Screenshot Youtube: Verschleierte Frauen gehen durch London

Bei einer jährlichen religiösen Prozession laufen Schiiten durch London.

Gläubige versammeln sich am Trafalgar Square in London zum islamischen Fest Aschura. (Archivbild: 2017)

Gläubige versammeln sich einmal jährlich zum islamischen Fest Aschura, wie hier 2017 am Trafalgar Square in London.

"Klassisches Playbook der Desinformation"

"Bilder und Videos aus dem Kontext zu reißen und mit anderem Text zu kombinieren, um Menschen in die Irre zu führen, ist Teil des klassischen Playbooks der Desinformation", sagt Forscher Chadwick. "Solche Beispiele finden sich an vielen Stellen der Desinformationskampagne, die wir in Großbritannien gerade sehen."

In den letzten zehn Jahren werde europaweit und auch in den USA versucht, mit irreführenden Bildern falsch darzustellen, wie das Leben von migrantischen Communitys aussehe, sagt Jacob Davey, Direktor für Forschung zu Hass im Netz am Institut für Strategischen Dialog (ISD) in London.

Auch jetzt sind die großen Accounts, die migrantenfeindliche Inhalte zur Wahl in Großbritannien verbreiten, oft europaweit aktiv. Sie teilen ähnliche Inhalte zu den Niederlanden, Schweden oder Deutschland - und aktuell besonders Frankreich, wo am Wochenende der zweite Wahlgang ansteht. Themen, Bilder und Rhetorik gleichen sich, nur die Orte wechseln.

Texte stellen Fragen, halten oft Community-Guidelines ein

Auffällig ist bei den stark verbreiteten Videos und Bildern, dass die Postingtexte oft sehr zurückhaltend formuliert sind. Sie stellen Fragen wie "Thoughts?" (auf deutsch: "Gedanken?"), "What do you notice?" ("Was fällt dir auf?"), "Is this how you want to live?" ("Willst du so leben?")

Statt offensichtlich ein enges, stimmiges Narrativ zu verbreiten, wie es für klassische Propaganda typisch wäre, gehe es mehr darum, die Menschen subtil anzuziehen und Interaktion auf Social Media zu erzeugen, sagt Chadwick.

"Hundepfeifen" als Lockmittel

"Solche sogenannten 'dog whistles' - übersetzt Hundepfeifen - erlauben, die eigentlich laute Botschaft nur leise zu sagen", sagt Davey. Mit implizitem Hass und Desinformation werde versucht, emotionale Reaktionen des Publikums zu erreichen.

Die beiden Forscher sind sich einig: Viele der Nachrichten seien wohl auch so vorsichtig formuliert, damit sie innerhalb der erlaubten Grenzen der Community-Guidelines der Social-Media-Plattformen bleiben - aber trotzdem ihre Botschaft vermitteln. Dass derzeit so besonders stark auf "dog whistles" gesetzt werde, ist laut Chadwick eine neue Entwicklung, auch um neue Zielgruppen anzusprechen.

Begriffe wie "Londonistan" beliebt in rechten Kreisen

Natürlich sind dennoch nicht alle Texte so subtil formuliert - auch Schlagworte wie "Londonistan" tauchen in Kombination mit aus dem Zusammenhang gerissenen Videos und Fotos immer wieder auf als Metapher einer angeblichen Islamisierung.

Solche Begriffe würden britische Rechtsextreme schon seit Jahrzehnten benutzen, sagt Davey vom ISD. "Das Hinzufügen von '-istan' am Ende eines britischen Ortsnamens ist eine ziemlich häufige Quelle rassistischer Bezeichnungen."

Erstmals starker Einsatz von KI-Bildern

Neben aus dem Kontext gerissenen Videos und Bildern wurde in diesem Wahlkampf in Großbritannien auch immer wieder mithilfe von KI Stimmung gegen Flüchtlinge und Muslime gemacht. KI-generierte Bilder zeigen Menschenmassen, die mit Koffern durch Londons Straßen laufen oder an der Küste ankommen - oder blonde, weiße Frauen, umringt von Männern arabischen Aussehens, in Alltagsszenen wie beispielsweise im Bus.

Auf einem Bild sitzt zum Beispiel ein Mädchen mit besorgtem Blick und der britischen Flagge auf dem T-Shirt in einem Klassenzimmer, umringt von vermeintlichen Muslimen. An der Wand hängen angeblich arabische Schriftzeichen. "Your future child is trying to understand Arabic" (auf deutsch: "Dein zukünftiges Kind versucht, Arabisch zu verstehen"), heißt es im Post auf X zu diesem Bild.

Ein KI-erzeugtes Bild auf der Plattform Twitter: Zu sehen ist eine junge Frau mit einem T-Shirt, auf dem die Flagge Großbritanniens zu sehen ist - drum herum lachende Menschen, die offenbar muslimischen Glaubens sein sollen

Kein Fake, aber effektvoll: Mit KI-generierten Bildern wird Stimmung gegen Muslime gemacht.

Billig, leicht und schnell erstellt

"Es ist das erste Mal, dass wir im Wahlkampf hier so eine starke Verbreitung solcher Bilder sehen", sagt Chadwick. In der Vergangenheit habe es mehr manipulierte Bilder oder Fake-Videos gegeben. Der Vorteil der KI-generierten Bilder sei aber: "Sie können billig, leicht und schnell erstellt werden" - ohne große technische Fähigkeiten. "Verbreiter von Desinformation sind immer frühe Anwender von neuer Technologie", ergänzt Davey.

Die KI-Bilder sind zwar ganz klar als solche erkennbar und keine Fakes. Doch sie haben laut Chadwick "symbolische Kraft", da sie stark emotional aufgeladen seien durch die für KI-Bilder typische Übertreibung. "Solche symbolischen Bilder lösen Emotionen in Menschen aus - und egal ob sie komplett realistisch sind oder nicht, können sie Angst verbreiten." Dass KI-Bilder eingesetzt werden, ist also neu, die Methoden und Narrative dahinter aber nicht.

Wer Desinformation und Hass zu Migranten verbreitet

Die Diskussion, wer hinter der Desinformationskampagne vor der Wahl steht, ist in Großbritannien in den vergangenen Tagen angeschwollen. Laut Forscher Chadwick ist ein großer Teil der Accounts mit sehr großer Reichweite dem rechten bis rechtsextremen Spektrum zuzuordnen.

Migrantenfeindliche Inhalte sind oft ihr Hauptthema und sie spielen auf Verschwörungserzählungen wie die des "Großen Austauschs" an, laut der es einen Plan zum Bevölkerungsaustausch zugunsten von Muslimen gebe. "Seit 2014 wird die Verschwörungstheorie von rechtsextremen Gruppen vermehrt auf Social Media verbreitet und rechte Politiker europaweit greifen sie auf", sagt Davey. Mittlerweile sei sie bereits Teil des Mainstreams politischer Rhetorik.

Operationen teils aus dem Ausland

Chadwick sagt, in britischen Expertenkreisen gebe es aktuell auch "Bedenken", ob die starke Verbreitung von Hass und Fakes im Wahlkampf von "außerhalb des Landes" komme. Im Moment sei es schwer zu sagen, ob es sich um eine inländische Kampagne handle für die Interessen von rechtsextremen Parteien oder eine Operation aus dem Ausland, um Spaltung und Konflikte zu säen.

In einigen Fällen, die ABC News aufdeckte, wurden reichweitenstarke migrantenfeindliche und kremlfreundliche Profile auf Facebook aus Nigeria betrieben. Sie brachen britisches Recht, da sie Werbeanzeigen von Facebook kauften ohne kenntlich zu machen, dass es sich um politische Inhalte handelte. Facebook hat die Profile mittlerweile gesperrt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 04. Juli 2024 um 17:00 Uhr.