Deutsche Nationalmannschaft EM als Ventil für rassistische Desinformation
Ein Gebetsraum für Muslime beim Fanfest, eine Nationalmannschaft, die nicht "deutsch genug" ist - rund um die EM kursieren rassistische Fakes und antimuslimische Hetze. Das ist Teil der Strategie, die vom rechten Rand betrieben wird.
Seit Beginn der Europameisterschaft kursieren Videos auf TikTok, X und Telegram, die einen Gebetsraum auf der Fanzone in Berlin zeigen. Zu sehen sind in dem Raum ein Gebetsteppich und ein Stuhl. In den Videos wird suggeriert, dass der Raum extra und ausschließlich für Muslime eingerichtet worden sei. In den Kommentaren entlädt sich geballter Hass auf Menschen muslimischen Glaubens.
Doch das, was in den Postings behauptet wird, stimmt nicht. Es gibt einen Gebetsraum - dieser ist aber für alle Religionen geöffnet. "Wir haben diesen Gebetsraum geschaffen, damit ein Mensch, wenn er beten möchte, einen Rückzugsort hat. Er ist konfessionsübergreifend gedacht und steht allen Menschen jeglicher Glaubensrichtung offen", sagt Lukas Blaß, Nachhaltigkeitsmanager von Kulturprojekte Berlin, dem Veranstalter der Berliner Fanzone.
Ein weiterer Vorwurf in den Videos ist, dass es zwar solche Gebetsräume, aber keine anderen Rückzugsräume für zum Beispiel stillende Mütter gibt. Auch diese Falschmeldung entkräftet Blaß: "Wir haben neben dem Gebetsraum noch Ruheräume - beispielsweise für stillende Mütter, für ältere Menschen, für Menschen, die Schutz vor Sonne suchen. Beide Räume sind Teil von unserem Inklusionsgedanken, dass wir auf der Fanzone einen Ort schaffen wollen, wo sich alle Menschen wohlfühlen."
Und was hat es mit dem Teppich auf sich, der im Gebetsraum liegt? Das hat mit dem Sicherheitskonzept der Fanzone zu tun. "Das hat den Hintergrund, dass Menschen muslimischen Glaubens den Teppich natürlich brauchen und er nicht durch die Eingangskontrolle kommen würde. Deshalb ist der da", erklärt Blaß.
Flaggen nicht verboten
Eine andere Erzählung ist, dass deutsche Flaggen auf der Fanmeile nicht erwünscht und sogar verboten sind. Auch AfD-Politiker haben entsprechende Videos gepostet. Als Beleg werden zum Beispiel Fotos von deutschen Fans ohne deutsche Flaggen beim Schauen der EM-Spiele gezeigt. Die Bilder sind echt, aber sie werden in einem falschen Zusammenhang gezeigt. Wenn die Fans das Spiel verfolgen, sind die Flaggen meist unten, damit sie nicht die Sicht behindern. Wenn aber ein Tor fällt, werden sie nach oben geholt, geschwenkt und sind dann auf anderen Bildern auch deutlich zu sehen.
Grund ist auch hier das Sicherheitskonzept: Flaggen und Fahnen dürfen keine Stangen haben, weil sie als Waffe verwendet werden könnten. Das Ganze ist also "eine ganz klassische Falschmeldung. Bei uns sind alle Flaggen und Fahnen der spielenden Nationen erlaubt. Deutschlandfahnen sind natürlich auch willkommen und erlaubt", stellt Blaß klar.
"Das ist ein klassisches Opfernarrativ aus extrem rechten Kreisen und soll über eine Problemsituation der extremen Rechten hinwegtäuschen: Seit Jahren agitieren sie gegen Migration und Vielfalt. Nun aber unterstützen große Teile der Gesellschaft ein sehr vielfältiges Team in einem immer diverser werdenden Fußball", sagt Sozialwissenschaftler Robert Claus. Rechtsextreme hätten Probleme, sich mit der aktuellen Nationalmannschaft zu identifizieren. "Als Ausweg dient dann dieses allzu durchschaubare Opfernarrativ."
Deutsche Fahnen dürfen hängen bleiben
Auch bei einer anderen Falschmeldung geht es um die deutsche Flagge: Immer wieder wird behauptet, dass diese sofort nach der EM entsorgt werden müssten. Sonst drohten Strafen, zum Beispiel ein Bußgeld.
Auch das ist falsch. Außerhalb von Großereignissen wie einer Fußball-Europameisterschaft ist nur das Verwenden der Bundesdienstflagge verboten. Sie enthält den Bundesschild, das den Bundesadler darstellt, und ist den deutschen Bundesbehörden vorbehalten. Deutschlandflaggen ohne Bundesschild sind nicht verboten und müssen dementsprechend auch nicht abgehängt werden.
Auch nach dem Ende der EM dürfte dieses Haus geschmückt bleiben.
"Extrem rechte Akteure verbreiten absichtlich Falschmeldungen, um das Thema Vielfalt zu diskreditieren. In ihrem ideologischen Fokus steht eine weiß und völkisch gedachte Nation, in der andere Identitäten und Gruppen ausgegrenzt und ausgebeutet werden", erläutert Claus. "Mit der Verbreitung von Falschmeldungen erhoffen sie sich, größere Menschenmengen zu erreichen und gesellschaftliche Konflikte um Vielfalt und Migration zu eskalieren."
Weil die deutsche Nationalmannschaft "zu bunt für rechtsextreme und rechtsradikale Kräfte sei", versuchten entsprechende Kreise Ausweichthemen zu finden, um eben trotzdem einen Nationalstolz zu betreiben, der dann vielleicht nicht direkt die Fußball-Nationalmannschaft betrifft, sondern Dinge, die drumherum passieren, sagt der Politikwissenschaftler und Soziologe Özgür Özvatan.
Rassismus und Antimuslimismus sind ereignisgetrieben
Grundsätzlich sei es so, dass rassistische und antimuslimische Agitationen immer ereignisgetrieben seien, sagt Özvatan. "Es gibt dieses programmatische Grundangebot und das wird immer ereignisgetrieben angepasst auf das, was gerade aktuell ist. Aktuell wird es auf das große Fußballereignis Europameisterschaft aufgestülpt", so Özvatan. Wenn man sich entsprechende Kanäle auf TikTok ansehe, "erkennt man sehr gut das Portfolio, das dort bedient wird: Da geht es um Grünenhass, es geht in Richtung Ampel-Hass, es geht in Richtung Anti-Migration, es geht in Richtung antimuslimischer Rassismus".
Neben klassischen Falschmeldungen steht dabei die deutsche Nationalmannschaft im Fokus zahlreicher Debatten und Verschwörungserzählungen. Vor allem die AfD und rechtspopulitische Kreise arbeiten sich regelmäßig an der Zusammensetzung der Mannschaft ab. So sagte AfD-Politiker Maximilian Krah in einem TikTok-Video: "Diese Mannschaft ist keine Nationalmannschaft." Es würde sich eher um eine "politisch korrekte Söldnertruppe, Regenbogenmannschaft, Pride Mannschaft" handeln. In zahlreichen Postings betonen User, dass sie die Europameisterschaft boykottieren würden, weil die Nationalmannschaft zu divers aufgestellt sei.
Anhaltende Aufregung um Antonio Rüdiger
Aufregung gibt es dabei anhaltend um Antonio Rüdiger. Der Innenverteidiger wird in den sozialen Netzwerken immer wieder mit Islamismus-Vorwürfen konfrontiert. Özvatan erklärt die Bewegggründe: "Teil der rechtsextremen Programmatik ist es, gegen Migration zu sein und vor allen Dingen gegen muslimische Migration zu sein, gegen den Islam in Deutschland zu sein. Da bietet es sich natürlich an, auf muslimische Fußball-Nationalspieler loszugehen. Und in dem Fall ist dann eben Antonio Rüdiger seit zwei Monaten davon betroffen."
Auslöser der Vorwürfe war unter anderem ein Instagram-Post zu Beginn des diesjährigen Ramadan, auf dem Rüdiger den erhobenen Zeigefinger zeigt. Der sogenannte Tauhid-Finger ist eine religiöse Geste und Teil des Gebets. Allerdings haben Dschihadisten, vor allem Anhänger des sogenannten Islamischen Staats (IS), diese Geste in der Vergangenheit als Erkennungszeichen genutzt.
"Diese Frage stellt sich ja immer: Wie weit lassen sich Demokratinnen und Demokraten Zeichen, die nicht per se extremistisch sind, von Extremisten wegnehmen?", sagt dazu Özvatan. Es sei offensichtlich, dass "Rüdiger kein Islamist und kein Extremist ist. Er ist ein Spieler der Nationalmannschaft, der sich nie zu religionspolitischen Themen geäußert hat. Er hat zum Ramadan ein Foto gemacht, wo eben dieses Zeichen als religiöses Zeichen zu sehen ist. Das dann so auszuschlachten, ist Teil der Programmatik".
Mehrere Nationalspieler mit der Geste
Auch auf einem offiziellen UEFA-Foto ist Rüdiger mit dem erhobenen Zeigefinger zu sehen - wie aber andere Nationalspieler auch. Ein religiöses Zeichen ist das in diesem Fall nicht. "Das Foto ist im Rahmen des offiziellen UEFA-Shootings zur Euro entstanden. Diese Pose haben mehrere Dutzend weitere Spieler auch gemacht aus allen möglichen europäischen Mannschaften. Es gibt über 50 Spielerfotos dazu, auch weil sie genau so vom UEFA-Fotografen angefragt wurde", sagte Rüdiger der "Bild".
Auch die UEFA wies jeden Vorwurf der Verwendung religiöser Motive zurück. "Das auf den Bildern gezeigte Symbol ist - wie viele andere während der Fotosessions gezeigte - eine typische Feierpose und darf - aufgrund der Zielsetzung der UEFA - nicht mit religiösen und/oder politischen Implikationen in Verbindung gebracht werden", hieß es vom Verband auf Anfrage. Aus der deutschen Nationalmannschaft sind beispielsweise auch Marc-André ter Stegen, Chris Führich und Maximilian Mittelstädt mit der gleichen Geste von der UEFA abgelichtet worden wie Rüdiger.
Nationalspieler Antonio Rüdiger
Unterstellung von islamistischem Gedankengut
Nach dem Achtelfinalsieg gegen Dänemark gibt es erneut eine Welle von Hetze und Hass gegen Rüdiger im Netz. Es geht um seine Aussage in einem Interview nach dem Spiel: "Was wir kritisieren können, ist, dass wir sie (Anmerkung: die Dänen) nicht schon vorher getötet haben". Anschließend sagte er: "Wir haben zu viele Chancen liegen gelassen."
Die Phrase mag irritierend sein, ist aber im Fußball eine bekannte Formulierung. Sie wird zum Beispiel verwendet im Sinne von "den Sack früher zumachen müssen" oder es wird gesagt, man hätte der anderen Mannschaft "früher den Todessstoß versetzen müssen". Rüdiger ist auch nicht der erste deutsche Nationalspieler, der sie in einem Interview verwendet hat. Aber: Der Satz wird in seinem Fall aktuell in den sozialen Netzwerken benutzt, um Rüdiger erneut islamistisches Gedankengut und reale Tötungsgedanken zu unterstellen.
Özvatan kritisiert, dass Sportlerinnen und Sportler, die solchen rassistischen und antimuslimischen Positionen ausgesetzt sind, zu wenig Rückhalt und Unterstützung von den Offiziellen bekommen. "Nachdem er diese Kampagne gegen ihn erfahren hat, gab es kaum jemanden von offizieller Seite, weder aus den organisierten Strukturen des Fußballs noch aus der Politik, der sich vor ihn gestellt hat", sagt Özvatan. Rüdiger habe das individuell lösen müssen, sich zu positionieren und zu distanzieren.