Europawahl 2024
Östliche Nachbarstaaten der EU Zündeln am Rande Europas
Vor kurzem noch undenkbar, nun ist es Realität: Mit der Ukraine versinkt ein östlicher EU-Nachbar zunehmend im Bürgerkrieg. Die europäische Sicherheitsarchitektur steht infrage. Stabilität wird es nur dann geben, wenn eine Lösung für die östliche Außengrenze der EU gefunden wird.
Wo endet Europa? In Richtung Osten ist die Frage nicht leicht zu beantworten. Der Übergang nach Asien ist fließend. Wie auch immer die Antwort ausfällt, eines lässt sich nicht abstreiten: Instabilität am östlichen Rand Europas wirkt sich auf die Europäische Union aus. Das zeigen die Entwicklungen der vergangenen Monate.
Noch 2011 warnte der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen: "Man stelle sich nur vor, wie es wäre, wenn wir es an der EU-Ostgrenze mit Bürgerkrieg, Armut, Elend und militärischen Konflikten zu tun hätten." Dies antwortete Verheugen auf die Frage, warum sich die EU um die sechs Ex-Sowjetrepubliken an ihrer östlichen Außengrenze kümmern sollte, wo die Union doch gerade mit der Schuldenkrise mehrerer Euro-Staaten beschäftigt war.
Was vor zweieinhalb Jahren noch unwahrscheinlich schien, ist plötzlich Realität: Eines der sechs Länder, die Ukraine, ist einem Bürgerkrieg nahe. Der Osten der Ukraine spaltet sich zusehends und mit Gewalt vom Rest des Landes ab. Im Handstreich hatte Russland zuvor die Krim annektiert.
Staatsgrenzen obsolet?
Besteht die Gefahr, dass weitere Staaten in diesen Strudel hineingeraten? Dies stünde zu befürchten, glaubte man den Verlautbarungen staatlicher und regierungsnaher russischer Medien. So zitierte die "Stimme Russlands" am 10. Mai einen Experten mit Warnungen vor bevorstehenden Umstürzen in weiteren Ex-Sowjetrepubliken. Einzig eine Annäherung an Russland werde sie retten, beschwor er.
Russische Medien gehen noch über das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion hinaus, das der Kreml als seine bevorzugte Einflusszone deklariert. Die "Stimme Russlands" wollte in einem Bericht vom 22. April Forderungen nach territorialen Ansprüchen aus dem EU-Land Rumänien an die Ukraine ausgemacht haben. Ein Vorschlag des russischen Politikers Wladimir Schirinowski über eine Aufteilung der Ukraine auch an Polen und Ungarn suggerierte, dass europäische Staatsgrenzen ihre Gültigkeit verloren haben.
Nationalistische Tendenzen nicht allein in Russland
Wenn Russlands Präsident Wladimir Putin für sich reklamiert, für alle Russen und Russischsprachigen verantwortlich sein zu wollen, so ist er nicht der einzige Staatschef mit nationalistischen Ambitionen über sein Land hinaus. So träumt Rumäniens Präsident Trajan Basescu von einer Wiedervereinigung der Republik Moldau mit Rumänien. Die Behörden seines Landes vergeben seit Jahren Pässe an rumänisch-stämmige Bürger Moldaus.
Ungarns Premier Viktor Orban forderte nach seiner Wiederwahl, ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern einen Autonomiestatus zu gewähren. Ethnische Ungarn unterstützten seine Politik, die Nation über ihre Grenzen hinaus zu vereinen, erklärte er. Seit 2010 vergibt auch dieser EU-Staat Pässe an ethnische Ungarn in den Nachbarländern Rumänien, Slowakei, Ukraine und Serbien.
Sicherheitsarchitektur Europas erschüttert
Die Grünen-Politikerin Marieluise Beck sprach am 7. Mai im Bundestag mit Blick auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland von einer "Erschütterung, deren Ausmaß wir noch nicht ganz begriffen haben. Denn es ist nach 1945 zum ersten Mal unter Anwendung von Gewalt von außen ein Landesteil eines souveränen Landes annektiert worden."
Beck ebenso wie Diplomaten und Politiker erklären, die europäische Sicherheitsarchitektur sei ins Wanken geraten. Man müsse sich Gedanken machen, wie eine neue errichtet werden könne. Gregor Gysi, Fraktionschef der Linkspartei im Bundestag, forderte kürzlich, der Westen und Russland müssten einander Fehler eingestehen und von vorn beginnen. Doch so einfach ist es nicht. Das Vertrauen auf beiden Seiten ist erheblich gestört, wenn es denn je vorhanden war.
Vertrauen erodiert
Auslöser für den Beginn der Krise in der Ukraine war der Streit um ein EU-Assoziierungsabkommen, das der inzwischen abgelöste ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch Ende November bei einem EU-Gipfel in Vilnius hätte unterzeichnen sollen.
Die Ursachen für die Entwicklungen in der Ukraine liegen jedoch weiter zurück und sind nur zum Teil in der östlichen EU-Nachbarschaftspolitik zu finden. Die EU hatte immerhin versucht, Russland einzubinden, und es ging und geht nicht um eine Erweiterung der EU. Doch stand die EU mit ihrem reichlich bürokratischem Projekt in einem Kontext westlichen Umgangs mit Russland, den die Führung in Moskau zunehmend als feindlich wahrnahm.
Der Militärexperte Wolfgang Richter beschreibt in einem Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik, wie der Westen und Russland in den vergangenen Jahren Sicherheitsvereinbarungen für Europa aushöhlten und damit ihre Wirksamkeit schmälerten.
OSZE bei Konflliktbewältigung wenig erfolgreich
Dies sind Vereinbarungen, die vor allem im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) getroffen wurden. Diese Organisation mit 57 Mitgliedsländern fristete jahrelang ein Schattendasein und rückte erst jetzt wieder im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Das liegt auch daran, dass die OSZE bei der Bewältigung von Konflikten kaum Erfolge aufweisen kann. So gelang es einer OSZE-Mission nicht, die Eskalation des Südossetien-Konfliktes 2008 in Georgien aufzuhalten. Inzwischen überwacht die EU dort mit einer Beobachtermission die Waffenstillstandsvereinbarung, die sie 2008 vermittelt hatte.
Unterschätzt wurde vielfach im Westen auch, wie sehr sich Russlands Präsident Putin mit seiner Rückkehr 2012 in den Kreml zu einem autoritären und neoimperialistischen Politiker entwickelt hatte. So hielt Ex-EU-Erweiterungskommissar Verheugen 2011 die These noch für eine "gewagte Unterstellung", dass Putin im Inneren autoritär und in der Folge gegenüber seinen Nachbarländern aggressiv auftreten könnte. Doch mit der Ankündigung über den Aufbau einer Eurasischen Union wurde klar, dass die russische Führung keine Annäherung an Europa mehr anstrebt, sondern ein Konkurrenzprojekt zur EU entwickeln will.
Eine starke Stimme und klare Ansagen
Nun steht Europa vor der Aufgabe, über die Krisenbewältigung in der Ukraine hinaus eine neue Grundlage für die Sicherheit auf dem Kontinent zu schaffen. Deutschland kommt dabei eine wichtige Bedeutung zu. Für Putin ist nicht die EU Ansprechpartner, sondern Kanzlerin Angela Merkel. Doch muss sie darauf achten, dass sich die EU und der Westen über der Krise nicht entzweien und damit weiter selbst schwächen. Putin wird nur eine starke Stimme und klare Ansagen respektieren. In den vergangenen Wochen zeigte sich, dass er lediglich auf diplomatische Forderungen einging, um Zeit zu gewinnen, aber nicht, um die Lage zu entspannen.
Über das Instrument von Wirtschaftssanktionen hinaus wäre es wichtig, auf die Sicherheitsinteressen Russlands zum Beispiel in sensiblen Zonen im baltischen Raum, im Schwarzen Meer und im Südkaukasus einzugehen. Ebenso müssen die Sicherheitsbedürfnisse der Nachbarn Russlands ernst genommen werden. Die EU-Staaten könnten sich dafür stark machen, alte, im Rahmen der OSZE getroffene Vereinbarungen, zu erneuern oder neu zu verhandeln. Gebraucht werden Lösungen für das Gebiet zwischen der EU und Russland, das mehr denn je eine Zone der Unsicherheit ist und Quelle weiterer Konflikte sein könnte.