Interview

Östliche Nachbarschaft der EU "Die Lage in Weißrussland hat sich weiter verschlechtert"

Stand: 29.09.2011 20:22 Uhr

Die EU-Mitgliedsstaaten und sechs Länder der ehemaligen Sowjetrepublik haben sich in Warschau zum Gipfeltreffen der "Östlichen Partnerschaft" versammelt. Der ehemalige EU-Kommissar Verheugen schildert im tagesschau.de-Interview Erfolge und Misserfolge in den einzelnen Ländern seit Gründung der Partnerschaft.

tagesschau.de: Herr Verheugen, in Warschau beraten die EU-Staaten mit den sechs Ex-Sowjetrepubliken Ukraine, Weißrussland, Moldawien, Georgien, Armenien und Aserbaidschan über die östliche Partnerschaft. Hat die EU nicht genug Schwierigkeiten im Inneren? Muss sie sich da um ihre Nachbarn an ihrer östlichen Außengrenze kümmern?

Günter Verheugen: Unbedingt. Die gegenwärtige Krise ändert nichts an unserem fundamentalen Interesse, in einer stabilen und friedlichen Nachbarschaft zu leben. Man stelle sich nur vor, wie es wäre, wenn wir es an der EU-Ostgrenze mit Bürgerkrieg, Armut, Elend und militärischen Konflikten zu tun hätten. Die Ukraine, Aserbaidschan und Georgien spielen auch für unsere Energieversorgung eine wichtige Rolle. Ziel der östlichen Partnerschaft ist es, den Ländern im Osten und Südosten Europas den Übergang zu vollständig funktionierenden Demokratien und wirtschaftlicher Entwicklung zu erleichtern und eine enge Partnerschaft mit ihnen zu entwickeln.

Zur Person

Der SPD-Politiker Günter Verheugen war von 1999 bis 2004 EU-Erweiterungskommissar. In diese Zeit fielen die Beitrittsverhandlungen mit jenen osteuropäischen Staaten, die 2004 und 2007 in die EU aufgenommen wurden. In seiner zweiten Amtszeit war er für Industrie und Unternehmenspolitik zuständig und zudem Vize-EU-Kommissionspräsident.

tagesschau.de: Die demokratische Entwicklung in den sechs Ländern hat seit Gründung der östlichen Partnerschaft vor mehr als zwei Jahren kaum Fortschritte gemacht. Man muss von Stagnation oder Rückgang sprechen. Hat die östliche Partnerschaft etwas bewirkt?

Verheugen: Wir haben seit 2003 einen weiten Weg zurückgelegt, auch wenn die Ergebnisse durchwachsen sind. Das liegt nicht an der Partnerschaft, sondern es gibt ein grundsätzliches Problem. Unsere Nachbarn erwarten mehr von uns, als wir zu geben bereit sind. Von den sechs Ex-Sowjetrepubliken wollen mindestens vier EU-Mitglied werden. Sie verstehen deshalb auch nicht, warum wir so viel von ihnen als Partner verlangen, wenn der große Preis am Ende gar nicht winkt. Ich glaube jedoch nicht, dass dieses Grundproblem beim Gipfel in Warschau gelöst wird. Denn es gibt in der EU keinerlei Bereitschaft für neue Zusagen im Hinblick auf neue Mitgliedschaften.

tagesschau.de: Wo sehen Sie die größten Probleme?

Verheugen: Das wichtigste, aber auch komplizierteste Land ist wahrscheinlich die Ukraine. Die EU verhandelt derzeit mit der Ukraine über ein umfassendes Assoziierungsabkommen, mit politischen Vereinbarungen, mit einem Freihandelsabkommen. Ich bin aber skeptisch, ob das wie vorgesehen noch in diesem Jahr unterzeichnet werden kann. Einige EU-Länder sehen den Gerichtsprozess gegen die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko mit großem Argwohn. Sie sind fest entschlossen, die Beziehungen zur Ukraine zunächst auf Eis zu legen, wenn sie verurteilt werden sollte.

tagesschau.de: Nehmen denn einige EU-Länder den Prozess gegen Timoschenko nicht möglicherweise nur zum Vorwand, um die Verhandlungen zu unterbrechen?

Verheugen: Man muss sich darüber im klaren sein, dass nicht alle EU-Mitgliedsländer ein erkennbares Interesse an einer Intensivierung der Beziehungen zum östlichen Europa haben, und Gelegenheiten werden immer genutzt, wenn sie sich bieten.

Östliche Partnerschaft

Die östliche Partnerschaft wurde auf Initiative Schwedens und Polens bei einem EU-Gipfel am 7. Mai 2009 in Prag gegründet. Als Partnerländer gehören ihr die Ukraine, Weißrussland, Moldawien sowie die Südkaukasus-Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan an. Diesen Ländern wird derzeit keine Perspektive auf EU-Mitgliedschaft eingeräumt. Sie sollen aber näher an die EU herangeführt werden. Dazu werden Freihandels- und Assoziierungsabkommen mit jedem einzelnen Land angestrebt. Im Gegenzug für die Anpassung an EU-Normen stellt die Union freien Zutritt zum EU-Binnenmarkt, engere Zusammenarbeit sowie die Erleichterung von Visa-Bestimmungen in Aussicht.

tagesschau.de: Die EU hat sich Weißrussland in den vergangenen Jahren etwas angenähert. Präsident Lukaschenko war beim ersten Nachbarschaftsgipfel 2009 in Prag zu Gast. Nach der Präsidentschaftswahl 2010 ließ Lukaschenko aber brutal gegen Regierungskritiker vorgehen. War die Annäherung ein Fehler?

Verheugen: Nein. Wir haben gelernt, dass die außenpolitische Isolierung Weißrusslands nichts brachte und  die EU besser beraten ist, bescheidenen Einfluss zu nehmen. Bislang ohne sichtbaren Erfolg. Die Lage in Weißrussland hat sich wieder verschlechtert. Mit Recht wird Weißrussland als letzte Diktatur Europas betrachtet. Solange es dieses Regime in Minsk gibt, glaube ich nicht, dass Weißrussland näher an Europa heranrücken kann.

tagesschau.de: Auch die Führung Aserbaidschans steckt Regierungsgegner ins Gefängnis. Das Land ist aber, wie Sie erwähnten, wichtig als Energielieferant. Ist es deshalb angesagt, gegenüber Aserbaidschan vorsichtig zu agieren?

Verheugen: In meinen Augen spricht alles dafür, auch gegenüber Ländern mit Bedeutung für unsere Rohstoffversorgung eine ganz klare Linie zu vertreten. Es zahlt sich nie aus, sich anzupassen und Verletzungen von Menschenrechten und Demokratieprinzipien zu ignorieren, nur weil ein Land Öl und Gas hat. Wir haben ja bei den Revolutionen in der arabischen Welt gesehen, dass am Ende das Volk aufsteht, wir aber blind für die Entwicklungen waren.

tagesschau.de: Wenn Russlands Regierungschef Putin im März wieder Präsident wird, erwarten Experten und russische Oppositionspolitiker mehr Stagnation als bisher. In der Folge könnte Russland international an Boden verlieren. Wäre zu befürchten, dass der Kreml diesen Verlust durch aggressives Auftreten auch gegenüber den Ex-Sowjetrepubliken wieder gutmachen wollte?

Verheugen: Das ist eine sehr gewagte Unterstellung. Russland hat strategische Interessen, ob in der Ukraine oder im Südkaukasus. Ich sehe aber mit Ausnahme von Georgien nicht, dass dies bisher zu aggressiven Handlungen geführt hätte. Ich rechne damit, dass Putin bei einem Wahlsieg weiter daran arbeiten wird, Russland auf der internationalen Bühne als unverzichtbare Kraft zu etablieren. Dazu passt aggressives Verhalten nur sehr bedingt. Auf jeden Fall bleibt es vorrangig, Russland einzubinden in die europäischen und atlantischen Strukturen.

Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de