Europawahl 2024
EU-Image vor der Wahl "EU muss andere Raketenstufe zünden"
Wahlfieber ist acht Wochen vor der Europawahl bei den wenigsten der 400 Millionen Wahlberechtigten zu spüren. Kommunikationsexperten erklären, warum die EU so wenige mitreißt - und wie sie ihr Image aufbessern könnte.
Zwei Monate vor einer Abstimmung läuft der Wahlkampf für gewöhnlich auf Hochtouren. Parteien und Kandidaten buhlen mit Plakaten um Aufmerksamkeit und machen Stimmung bei den Wahlberechtigten - ob positiv oder negativ. Die Europawahl im Mai hingegen, zu der 400 Millionen Menschen in 27 Staaten aufgerufen sind, scheint in der heißen Phase kaum jemanden mitzureißen: Von Werbung von der EU in eigener Sache haben acht Wochen vor dem Wahltag nur die wenigsten etwas mitbekommen.
Dabei hatte sich die Europäische Union 2016 auf dem EU-Gipfel in Bratislava vorgenommen: "Wir müssen die Kommunikation verbessern". Angesichts des Brexit-Referendums und der Flüchtlingskrise wollten die Mitgliedsstaaten ihren Bürgern wieder vermehrt die Vorteile der Staatengemeinschaft vermitteln.
Ob das gelungen ist, soll sich am 26. Mai zeigen. Vielen Beobachtern und Nachrichtenmedien gilt die Abstimmung regelrecht als "Schicksalswahl" eines gespaltenen Staatenbunds: Populisten, rechtsextreme Kräfte und sogenannte Europaskeptiker, die sich eine Rückkehr zu stärkeren Nationalstaaten wünschen, haben Zulauf. Ihnen gelingt, was die EU angesichts von Bankenrettung, Migrationskrise und Brexit-Votum nicht mehr recht schafft: Die Emotionen und das Sicherheitsbedürfnis der Bürger abzuholen und für sich zu nutzen.
Die EU ist dann präsent, wenn etwas schlecht läuft
Das liegt auch daran, dass die EU seit Jahren vor allem dann in der öffentlichen Wahrnehmung präsent sei, wenn etwas schlecht läuft: "Da ist Drama, das kann man gut als Fortsetzungsgeschichte erzählen", sagt Medienwissenschaftler Dennis Lichtenstein, der den Lehrstuhl für Politische Kommunikation an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen hält.
Zugleich hätten sich positive Botschaften allmählich totgelaufen: "Man kann das Narrativ von der EU als Friedensgemeinschaft nach siebzig Jahren nicht mehr hören - das weckt keine Emotionen mehr." Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit sei die Europäische Union noch immer sehr zurückhaltend, sagt Lichtenstein: "Die EU reagiert, wenn sie reagieren muss. Komissionspräsident Jean-Claude Juncker ist da noch vergleichsweise aktiv - der ist auch in 'Routinephasen' jenseits der Krisen präsent."
Auf Aktivität kommt es aber an, wenn die EU Unterstützer gewinnen und bei sich halten will. Die Wahlbeteiligung sinkt schon seit der ersten Europawahl 1979, bei der Wahl im Jahr 2014 kam sie gerade noch auf 43 Prozent - und das, während die Zahl der Mitgliedsstaaten von neun auf 27 angewachsen ist.
Das Image der EU innerhalb ihrer Mitgliedsstaaten ist sehr unterschiedlich - und, wie etliche kommunikationswissenschaftliche Studien belegen, stark daran gebunden, ob sie als nützlich für das Land wahrgenommen wird: Während der weltweiten Finanzkrise 2008 und nach dem Brexit-Votum von 2016 etwa sank die empfundene "Nützlichkeit" in der gesamten EU. Im September 2018 sagten im Durchschnitt zwei Drittel der EU-Bürger der Statistikbehörde Eurostat, dass die Staatengemeinschaft vorteilhaft für ihr Land sei. In Irland, Malta, Estland und Litauen lagen die Zustimmungsraten bei etwa 90 Prozent. Am Ende der Beliebtheitsskala rangierte die EU in Großbritannien, Österreich, Bulgarien und Griechenland - in Italien hat sie sogar mehr Gegner (45%) als Befürworter (43%). Deutschland bewegt sich mit 76 Prozent über dem EU-Durchschnitt.
Die EU tritt wie eine Botschaft auf
Trotz der ungleichen Voraussetzungen: Etwa zwei Drittel aller EU-Bürger sind erwerbstätig und wahlberechtigt - sie gilt es zu mobilisieren. Eine Wahlkampagne, für die die EU 2014 eine Werbeagentur engagierte, kostete 18 Millionen Euro und brachte mäßigen Erfolg. Für 2019 hat das Europaparlament deshalb die Wahlwerbung in die eigenen Hände genommen. Das Webportal "What Europe Does For Me" etwa setzt bei der Nützlichkeit an und zeigt Usern, was die EU in ihrem Land und ihrer Region entwickelt, baut, und finanziert. Eine Imagekampagne namens "Diesmal wähle ich" zielt vor allem mit Internet-Inhalten auf Erst- und Jungwähler - und ist intern heftig umstritten, weiß Heiko Kretschmer, Schatzmeister und Ethikbeauftragter der Deutschen Gesellschaft für Politikberatung.
"Das Ergebnis finde ich sehr enttäuschend", sagt er. "Sehr kleinteilig, unübersichtlich und zu sehr aus Brüsseler Sicht gedacht." Statt wie ein Kampagnenbüro trete die EU auf wie eine Botschaft und sei zu selbstreferentiell: "Man wirbt für die gute EU mit der guten EU" - doch das allein zünde bei immer mehr Wählern nicht mehr.
Verglichen mit den Europaskeptikern und Nationalisten ist die EU strategisch doppelt im Nachteil, sagt Kretschmer: "Ihre Gegner mobilisieren durch ein klares Feindbild. Denn es ist einfacher, Menschen hinter einem Nein zu versammeln als hinter einem Ja." Außerdem stimmten Menschen bei Wahlen meist aus einer Zukunftserwartung heraus ab, nicht aus Anerkennung für eine erfolgreiche Vergangenheit - doch die EU argumentiere stark mit ihrer Geschichte und zu wenig mit einer gemeinschaftlichen Zukunftsvision.
"Kommunikationswirrwarr" der Kampagnenhelfer
Zumindest bei der Wahlwerbung geht die EU in diesem Jahr allerdings neue Wege: Erstmals machen Kampagnenhelfer im Namen der EU Werbung. Sie touren mit Infoständen und Broschüren von Universität zu Universität oder werben auf Instagram und Facebook für die EU - doch ihre Kanäle haben oft nur mehrere Hundert oder Tausend Abonnenten.
"Es ist eher ein Kommunikationswirrwarr: Sehr viele unterschiedliche Leute eignen sich den Begriff EU an, um damit sehr unterschiedliche Botschaften zu vermitteln", meint die Kommunikationsberaterin Sabine Clausecker, die Mitglied im Präsidium der Deutschen Public Relations Gesellschaft ist. Eine übergeordnete, gesamte PR-Strategie sei von außen kaum erkennbar. Insbesondere das Warum, also der Grund, an die europäische Staatengemeinschaft und ihre Institutionen zu glauben, trete nicht deutlich genug hervor.
Die #PulseofEurope-Bewegung hat viele Tausend Menschen auf die Straßen gebracht, die stolz ihre EU-Zugehörigkeit zeigten.
Positiv sieht Clausecker, dass die EU auf Graswurzelbewegungen wie "Pulse of Europe" aufspringt und Präsenz zeigt: Denn für die EU gehe es darum, Identifikationspotential zu schaffen. "Bei den jungen Leuten um die 20 hat das geklappt. Die sehen sich durch Reisen, Freunde im Ausland als Europäer - vielleicht auch dank der nicht mehr vorhandenen Sprachbarrieren", sagt Clausecker. Auch die Nachkriegsgeneration sei durch die Römischen Verträge mit den vielbeschworenen europäischen Werten vertraut. "Das Problem ist eher die mittlere Generation, die gefühlt keinen Vorteil von der EU hat und sich teilweise von der Digitalisierung und Globalisierung ratlos zurückgelassen fühlt".
"Bereit sein, den Reset-Knopf zu drücken"
Diese Altersstufe erinnert sich noch lebhaft an das Jahrtausendwende-Image der EU als "Verordnungsmonster" und die Finanzkrise von 2008. Wahlkampf hat sie auf ganz andere Weise kennengelernt als die Erstwähler: nämlich durch Plakatwerbung oder Informationsstände in der Fußgängerzone. Die Wählergeneration im Ruhestand schließlich sei am ehesten noch durch Anzeigen in Regionalzeitungen und Fernseh-Werbespots erreichbar. Um auch diese Altersgruppen zu erreichen, deren Anteil an der Bevölkerung steigt, müsste die EU laut Clausecker "noch mal eine andere Raketenstufe zünden" - "vielleicht kommt die ja noch", meint sie.
Für Kretschmer steht hingegen ein anderes Problem im Vordergrund: "Europa hat keine gemeinsame Erzählung mehr über sein Projekt. Daran müsste man arbeiten", meint er. "Einem Kunden würde ich raten: Bereit sein, den Reset-Knopf zu drücken, alles zu hinterfragen und einen gemeinsamen Rahmenaspekt zu finden, der alle verbindet." Doch den muss die EU erst einmal mit sich selbst aushandeln.