Kriegsbeginn vor 70 Jahren Es begann mit einem Massaker in Wielun
Am 1. September 1939 um 4.45 Uhr eröffnete ein deutsches Kriegsschiff das Feuer auf die Danziger Westerplatte. Dieser Zeitpunkt gilt als der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Doch bereits fünf Minuten vorher fielen Bomben auf eine polnische Stadt.
Von Ludger Kazmierczak, ARD-Hörfunkstudio Warschau
Der 1. September 1939 ist ein warmer, sonniger Spätsommertag. Das Thermometer soll auf fast 30 Grad klettern, meldet der Wetterbericht. Der kleine Piotr Kieszkowski will am Nachmittag mit seinen Freunden schwimmen gehen. Er liegt noch im Bett, als seine Mutter die Tür aufreißt und den Jungen auffordert, sich schnell anzuziehen und mitzukommen.
"Wir liefen gerade vom Wohnzimmer in die Küche, als die Bombe im Hinterhof einschlug. Alles stürzte zusammen", berichtet er 70 Jahre später. "Um uns herum lagen nur noch Trümmer. Wir liefen zurück ins Wohnzimmer. Durch die bereits zerstörten Fenster sprangen wir nach draußen. Wir flüchteten auf ein Feld am Stadtrand. Von dort aus habe ich gesehen, wie ein Flugzeug im Sturzflug seine Bomben abwarf. Ich war davon überzeugt, sie fallen auf mich."
Die Stukas kamen um halb fünf
Es sind deutsche Sturzkampfbomber, die um kurz nach halb fünf an diesem Morgen das 16.000 Einwohner zählende Städtchen Wielun unter Beschuss nehmen - etwa fünf Minuten, bevor das Marine-Schulschiff "Schleswig-Holstein" die ersten Schüsse auf den polnischen Militärstützpunkt Westerplatte bei Danzig abfeuert.
Narcyz Klatka wohnt in einem Nachbardorf von Wielun und bekommt zunächst nichts mit von dem verheerenden Angriff. Erst als er sich mit dem Fahrrad auf den Weg zur Schule macht, wird ihm klar, was passiert ist.
"Ich hatte die ganze Zeit meine bevorstehende Abiturprüfung im Kopf und keinen Krieg. Als ich mich Wielun näherte, sah ich schon die ganzen Menschen, die mir entgegen kamen", erzählt Klatka. Aber das Grauen des Krieges erfasste ihn noch nicht sofort. "Ich fuhr weiter und erst als ich in der Nähe des Marktes war, sah ich das Flammenmeer. Ich habe gesehen, wie der ganze Markt niederbrannte."
1200 Polen sterben in Wielun
1200 Menschen sterben im Bombenhagel der deutschen Stukas, die von der Dessauer Flugzeugfabrik Junkers eigens für den Polenkrieg mit einem doppelt so starken Motor wie das bisherige Modell aufgerüstet wurden. Innerhalb weniger Minuten sind 70 Prozent des militärisch völlig bedeutungslosen Städtchens zerstört. Piotr Kieszkowski ist bis heute fassungslos. Warum Wielun, fragt er sich, warum ausgerechnet Wielun?
Die Menschen verstehen bis heute nicht, warum die Deutschen Wielun angriffen, einen strategisch unbedeutenden Ort.
"Mein Vater hat mir immer gesagt: Krieg ist, wenn zwei Armeen gegeneinander kämpfen. Ich hätte nie daran gedacht, dass einem Krieg ein Bombenangriff vorangehen könnte. Das war undenkbar", sagt der Überlebende. "In Wielun gab es keine Bunker, keine Kasernen. Nur dem lieben Gott und der Vorsehung ist es zu verdanken, dass wir nicht auch ums Leben gekommen sind. Wir waren sehr nahe dran."
Jahrzehntelang im Schatten der Westerplatte
Bis vor wenigen Jahren wusste kaum jemand in Polen, dass der Zweite Weltkrieg nicht in Danzig, sondern 20 Kilometer hinter der damaligen deutsch-polnischen Grenze ausgebrochen war. 64 Jahre lang haben die Polen den Mythos Westerplatte gepflegt - nicht ganz uneigennützig, meint der Historiker Tadeusz Olejnik.
Das Stadtzentrum von Wielun heute
"Jede Nation pflegt ihr Heldentum. Und der Kampf um die Westerplatte war ein Beispiel dafür, zu welchen Opfern die Polen bereit waren, um ihr Vaterland zu verteidigen. Und Wielun? Wielun war eine kleine, ruhige Stadt, wo es ein Massaker, aber keine Helden gegeben hat", meint der Geschichtswissenschaftler. "Wielun konnte also kein Vorbild für die Polen sein."
Die Welt wird an diesem 1. September nach Danzig blicken, wo Staatschefs aus 20 Ländern der Opfer des Krieges gedenken werden. Aber auch in Wielun gibt es eine Gedenkfeier - kleiner, ruhiger und bescheidener. Wielun wird wieder im Schatten der Westerplatte stehen - wie vor 70 Jahren.