Gedenken an die Opfer des Warschauer Ghettos Wie ein Kniefall Geschichte schrieb
"Am Abgrund der deutschen Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt" - so beschrieb Bundeskanzler Brandt seinen Kniefall vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos. Brandts Geste löste zunächst viel Empörung aus. Sie setzte aber ein Zeichen für Versöhnung.
Der 7. Dezember 1970 ist ein trister und kalter Wintertag. Die Stufen vor dem dunkelgrauen Denkmal sind noch nass, als Bundeskanzler Willy Brandt sich dem Monument nähert. Wie im Protokoll vorgesehen, legt er einen Kranz für die jüdischen Opfer des Warschauer Ghetto-Aufstands nieder. Der Kommentator damals schildert die Szene so: "Der Kanzler rückt jetzt die schwarz-rot-goldene Schleife an dem Kranz zurecht und verharrt dann schweigend vor dem Denkmal. Er ist niedergekniet. Selten habe ich eindrucksvoller gesehen, dass ein Deutscher die Verantwortung für diese unermesslichen Verbrechen auf sich nimmt, wie es eben hier der deutsche Bundeskanzler vor dem Denkmal im Warschauer Ghetto getan hat."
"Ich bitte für mein Volk um Verzeihung"
"Am Abgrund der deutschen Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt", schreibt Brandt in seinen Memoiren. Und niemand, der dabei gewesen ist, zweifelt an seinem Bekenntnis, dass diese Geste spontan und nicht kalkuliert war. "Ich fand, ich konnte dann letztlich nichts anderes tun, als ein Zeichen zu setzen. Ich bitte als einer, der nun nicht zu den wildesten Anhängern Hitlers gehörte, um es mal so zu sagen. Ich bitte für mein Volk um Verzeihung", sagte Brandt später.
"Eine sehr starke Geste"
In den staatlich kontrollierten Medien der Volksrepublik Polen fand der Kniefall nicht statt - kein Filmmaterial, keine Fotos. Die Berichterstattung beschränkt sich auf die Unterzeichnung des Warschauer Vertrages, in dem Deutschland faktisch die Oder-Neiße-Grenze anerkennt - auch wenn die endgültige Regelung einem Friedensvertrag vorbehalten bleibt.
Der jüdische Historiker und Holocaust-Überlebende Feliks Tych erinnert sich, dass er erst ein paar Tage später wirklich registriert hat, was da vor dem Denkmal für die Ghetto-Helden geschehen war. "Ich war sehr gerührt. Das war eine sehr starke Geste, ein Signal für Deutschland. Viele von meinen Freunden haben genau so reagiert. Das war für uns wirklich etwas ganz Wichtiges, besonders, wenn man das sieht im Kontext der antisemitischen Kampagne in Polen im Frühjahr 1968. Das war eine äußerst wichtige Demonstration", sagt er rückblickend.
Eine Mahnung auch an die damalige polnische Regierung
Brandt gedachte der jüdischen Opfer des Krieges ausgerechnet in einer Zeit, da Polens Machthaber gerade 20.000 Juden ausgebürgert hatten. Dass die Kommunisten bemüht waren, die Geste zu ignorieren, lag also weniger an der Versöhnungs-Symbolik. Brandt muss in den Augen der polnischen Regierung wie ein Mahner vor einem neuen Antisemitismus gewirkt haben. Parteichef Gomulka und Ministerpräsident Cyrankiewicz sprachen den Gast mit keiner Silbe auf den Kniefall an. Stattdessen betretenes Schweigen. Brandt, so Tych, habe die Apparatschiks - ob bewusst oder unbewusst - als Antisemiten bloßgestellt.
In der jüdischen Welt kam der Kniefall zunächst weitaus besser an als in Polen, wo die große Geste diverse Interpretationen zuließ. Hätte der Kanzler der Bundesrepublik sich bei den polnischen Opfern des Nazi-Terrors entschuldigen wollen, hätte er wohl besser vor dem Grab des unbekannten Soldaten in die Knie gehen sollen. Dort aber hatte Brandt ganz unspektakulär und protokollgemäß nur Blumen niedergelegt. Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, Brandt sei gar nicht klar gewesen, dass das Denkmal ausschließlich den jüdischen Opfern Warschaus gewidmet war.
Für viele Überlebende hat der Kniefall eine große Bedeutung
Wie jedes bedeutende historische Ereignis, wird auch dieses von Mythen und Legenden begleitet. Für den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der das Warschauer Ghetto erlebt und überlebt hat, war der Kniefall vor allem persönlich von Bedeutung - ungeachtet aller Lesarten der Historiker: "Das hat auch in meinem Leben eine große Rolle gespielt. Vielleicht habe ich erst in diesem Augenblick ganz gewusst, dass es doch richtig war, als ich im Jahre 1958 Polen verlassen habe, mich für die BRD zu entscheiden."
Kritik an Brandt auch im eigenen Land
Nicht nur in Polen, auch im eigenen Land erntete der sozialdemokratische Regierungschef neben Beifall viel Kritik für sein Handeln. Es hagelte Proteste und politischen Widerspruch. Laut einer Umfrage des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" fanden 48 Prozent der Westdeutschen die Geste übertrieben. Manche sprachen gar von Unterwürfigkeit.
Viel Lob für Bundespräsident Herzog
Der Kniefall Willy Brandts stand am Anfang einer ganzen Reihe bedeutender Gesten und Reden, mit denen deutsche Politiker zur Aussöhnung mit Polen beigetragen haben. Für viele polnische Historiker ist beispielsweise der Staatsbesuch von Bundespräsident Roman Herzog 1994 von ähnlich herausragender Qualität. Zum 50. Jahrestag des Warschauer Aufstandes hielt Herzog eine Rede, die auf ein breites, positives Echo stieß: "Heute aber verneige ich mich vor den Kämpfern des Warschauer Aufstandes, wie vor allen polnischen Opfern des Krieges. Ich bitte um Vergebung für das, was Ihnen von Deutschen angetan worden ist."
Deutliche Worte auch von Bundeskanzler Schröder
Zehn Jahre später nahm Bundeskanzler Gerhard Schröder an den Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands teil. Die Polen erwarteten auch von Schröder ein Zeichen der Versöhnung und eine Anerkennung der deutschen Schuld. Die hohen Erwartungen wurden nicht enttäuscht: "Wir beugen uns heute in Scham angesichts der Verbrechen der Nazi-Truppen. An diesem Ort des polnischen Stolzes und der deutschen Schande hoffen wir auf Versöhnung und Frieden. Wir Deutschen wissen sehr wohl, wer diesen Krieg angefangen hat und wer seine ersten Opfer waren. Deshalb darf es heute keinen Raum mehr geben für Restitutionsansprüche aus Deutschland, die die Geschichte auf den Kopf stellen."
Merkel gedenkt der Opfer am 70. Jahrestag des Kriegsbeginns
Und von den vielen Reden, die Angela Merkel in Polen gehalten hat, ragte sicherlich eine heraus: jene zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns auf der Danziger Westerplatte: "Ich gedenke der 60 Millionen Menschen, die durch diesen, von Deutschland entfesselten Krieg, ihr Leben verloren haben. Es gibt keine Worte, die das Leid dieses Krieges und des Holocausts nur annähernd beschreiben können. Ich verneige mich vor den Opfern.
Angela Merkel, Donald Tusk und Wladimir Putin bei der Gedenkstunde auf der Westerplatte
Trotz aller Reden, Gesten und Staatsbesuche der vergangenen Jahre, für Tych bleibt Brandts Kniefall als Wendepunkt in den schwierigen deutsch-polnischen Beziehungen einzigartig und unerreicht. Brandt, so der jüdische Historiker, habe mit seiner Geste den Weg für eine neue deutsche Ostpolitik und für die Aussöhnung mit Polen geebnet: "Ich denke aus der heutigen Sicht, dieser Kniefall war ein Versprechen, dass wir eines Tages doch in einer anderen Sprache miteinander sprechen werden. Und das haben wir."