EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit "Ein Großteil ist schon gewandert"
Ab dem 1. Mai dürfen Bürger aus acht osteuropäischen EU-Ländern auch ohne Arbeitserlaubnis in Deutschland arbeiten. Mit einem Ansturm auf Deutschland rechnen in Polen längst nicht alle: Viele sind längst in England oder Irland. Andere aber reizen höhere Löhne im Nachbarland.
Von Ludger Kazmierczak, ARD-Hörfunkstudio Warschau
Ein Sprachkurs im polnischen Danzig. Speziell für Männer und Frauen, die bereit sind, westlich der Oder einen Job anzunehmen, bietet diese Personalvermittlungsagentur "Deutsch für Anfänger" an. Um die schwierige Sprache des Nachbarn zu lernen, drückt auch Jolanta Musial noch einmal die Schulbank. Für mindestens ein halbes Jahr möchte die 45-Jährige in Deutschland eine pflegebedürftige Seniorin betreuen. "Ich habe den Kurs jetzt abgeschlossen und werde fahren", sagt sie. Vorher hat sie außerdem einen Pflege-Kurs beim Polnischen Roten Kreuz gemacht und dort schon alte Menschen betreut. "Ich mag diese Arbeit", sagt sie. "Das Geld spielt natürlich auch eine Rolle, aber wenn ich das nicht mögen würde, könnte ich als Betreuerin mit diesen alten Menschen gar nicht arbeiten."
Auch Wanda Sliwa aus dem pommerschen Kolonia Ostrowicka kümmert sich um alte Menschen in Deutschland. Seit fünf Jahren ist die frühere Buchhalterin pensioniert. Mit der kleinen Rente kommen sie und ihr Mann eher schlecht als recht über die Runden. Über eine Tante, die in Norddeutschland lebt, kam sie zu ihrem ersten Pflegejob im Nachbarland. "Die erste Anstellung war für zwei Wochen. Eine ältere Dame, die Alzheimer hatte", erinnert sie sich. "Sie hatte zwei erwachsene Söhne. Als die im Urlaub waren, habe ich die Oma betreut. Das war auf dem Lande, etwa 20 Kilometer von Schleswig entfernt. Wir sind oft spazieren gegangen oder ich habe sie im Rollstuhl spazieren gefahren."
Illusionen über das gelobte Deutschland
Jolanta Musial und Wanda Sliwa sind zwei von schätzungsweise mehr als 150.000 osteuropäischen Frauen, die in deutschen Haushalten hilfsbedürftige Menschen pflegen. Polinnen können in diesem Bereich drei Mal so viel verdienen wie in ihrer Heimat.
Zwar ist das Lohnniveau in Polen deutlich gestiegen, doch gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten in die Höhe geschossen. Mit einem Durchschnittsgehalt von umgerechnet 800 Euro kann ein normaler Arbeitnehmer in Warschau vielleicht gerade seine bescheidene Wohnung bezahlen. Polnische Tageszeitungen, vor allem Boulevardblätter, haben in den vergangenen Monaten daher Lohntabellen abgedruckt, die zeigen, wie viel Geld im gelobten Deutschland zu machen ist. Zahlen, die falsche Erwartungen wecken können, so Ulrike Geith von der Deutschen Botschaft in Warschau: "Mit dem, was man in Deutschland verdienen kann - ich glaube, da werden teilweise auch Illusionen in der Presse erzeugt. Es gibt hier Gehaltstabellen, die zum Beispiel nicht abdecken, dass viele Bereiche in Deutschland inzwischen zu einem Großteil über Minijobs abgedeckt werden."
Die Informationen sind verwirrend und deshalb suchen migrationswillige Polen Rat – auch bei der Botschaft, erzählt Geith. "In der Tat sind die Anfragen hier an der Botschaft gestiegen, ebenso die Anfragen bei den EURES-Beratungsstellen", sagt sie, räumt aber ein: "Allerdings nicht in dem Umfang, dass man jetzt von einem Ansturm sprechen könnte."
Akademiker flüchten vor Arbeitslosigkeit
Doch einen solchen Run auf den deutschen Arbeitsmarkt erwartet die polnische Ökonomin und Migrationsexpertin Krystyna Iglicka. "Ich rechne damit, dass in den ersten anderthalb Jahren rund eine Million Polen ihre Koffer packen werden, um in Deutschland ein neues Leben zu beginnen", sagt sie. Die polnischen Emigranten unterscheidet sie in zwei Typen: Zum einen junge, gut ausgebildete Menschen aus der Kleinstadt, die im Ausland unterqualifiziert arbeiten - im Restaurant oder Hotel. Zum anderen niedrig qualifizierte Arbeiter, wie Maurer und Klempner.
Die Erstgenannten finden in Polen keinen Job, die Arbeitslosigkeit unter Akademikern ist dramatisch hoch. Die zweite Gruppe sucht schlichtweg höhere Löhne. Sie streben keine Leben aus dem Koffer an, sondern wollen dauerhaft am neuen Ort bleiben.
Andere Arbeitsmarktexperten halten die Prognosen von Iglicka für übertrieben. Es gibt Statistiken, wonach jährlich höchstens 50.000 bis 100.000 Polen nach Deutschland auswandern werden. Also längst nicht so viele, wie vor sechs, sieben Jahren, als Irland und Großbritannien ihre Grenzen geöffnet haben.
Viele sind schon weg
"England und Irland waren damals die ersten. Diese Länder haben sofort nach dem Beitritt Polens die Freizügigkeit für den Arbeitsmarkt eingeführt und dadurch hat sich natürlich alles Richtung England und Irland orientiert," sagt Ulrike Geith, die in der Deutschen Botschaft in Warschau das Referat für Sozial- und Beschäftigungspolitik leitet. "Inzwischen ist es ja so, dass die Polen auch eine Wahlmöglichkeit haben zwischen den Ländern. Es ist also eher nicht zu erwarten, dass es eine ähnliche Intensität geben wird wie nach England und Irland. Ein Großteil derjenigen, die wandern wollen, sind ja auch schon gewandert."
Nicht nur nach England. Auch die skandinavischen Länder waren in den vergangenen Jahren gefragt. Viele Polen sind also längst weg. Und natürlich, so Krystyna Iglicka, haben sie in ihrer Heimat Lücken hinterlassen, die nun andere füllen müssen. "Wie in jedem Land gibt es auch in Polen Berufe, die kaum jemand ausüben möchte," sagt die Professorin. "Auf dem Bau, in der Altenpflege, in der Landwirtschaft - das sind klassische Berufe für Migranten. Und polnische Arbeitgeber bemühen sich schon jetzt händeringend um Arbeitskräfte aus China oder Indien. Zunächst aber werden sicher unsere Nachbarn aus der Ukraine und Weißrussland kommen."
In Europa hat sich bereits so viel bewegt, dass die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes vielleicht gar nicht so spektakulär wird, wie so mancher erwartet. Am 1. Mai selbst haben die Polen sowieso ganz anderes im Kopf. Der berühmteste Sohn ihres Landes wird selig gesprochen: Papst Johannes Paul II. Wer will da schon ans Arbeiten denken?