Interview

Vor 70 Jahren überfiel Deutschland Polen "In Deutschland fehlt es an Interesse"

Stand: 01.09.2009 03:45 Uhr

Auf der Halbinsel Westerplatte bei Danzig wird heute des 70. Jahrestags des Beginns des Zweiten Weltkriegs gedacht. Damals überfiel Deutschland Polen. tagesschau.de sprach mit dem polnischen Historiker Robert Traba über das noch immer schwierige Verhältnis zwischen Polen und Deutschen.

tagesschau.de: Finden die Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Weltkriegsbeginns auf der Westerplatte bei Danzig eigentlich am richtigen Ort statt?

Robert Traba: Tatsächlich waren die Schüsse auf der Westerplatte nicht die allerersten Kriegshandlungen. Zehn Minuten zuvor wurde bereits das Grenzstädtchen Wielun von der deutschen Luftwaffe bombardiert. Rund 1200 Menschen starben damals. Das ist schon seit Jahren bekannt. Trotzdem ist natürlich die Westerplatte der richtige Gedenkort.

Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkrieges an der Westerplatte

Gedenken an der Westerplatte: 20 Prozent der polnischen Bevölkerung kamen im Zweiten Weltkrieg ums Leben.

tagesschau.de: Wieso?

Traba: Die Westerplatte ist schon seit Jahren ein wichtiger Erinnerungsort. Hier haben sich beispielsweise in den 90er-Jahren ehemalige Wehrmachtssoldaten mit polnischen Soldaten getroffen, die damals in die Kämpfe verwickelt waren. Das war von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Immer wieder gab es Ereignisse dieser Art - und so hat sich die Westerplatte als Gedenkort etabliert. Doch letztendlich ist der Ort ja nur das eine. Es gibt Wichtigeres.

tagesschau.de: Was ist denn wichtiger?

Traba: Alle Schüler in Deutschland wissen: Am 1. September 1939 wurde Polen von den Deutschen überfallen, der Zweite Weltkrieg hatte damit begonnen. Doch in den allermeisten Fällen ist das doch totes Wissen, ein totes Datum. Auswendig gelernt, um in der nächsten Klassenarbeit eine gute Note zu schreiben. Es ist bestimmt keine lebendige Aufarbeitung der Geschichte. Dazu wäre es wichtig, wirklich über alle relevanten historischen Ereignisse zu reden, aber in einem ganz bestimmten Kontext.

tagesschau.de: In welchem?   

Traba: Ohne Zweifel gibt es im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg eine ganze Kette von wichtigen Ereignissen, mit denen wir uns - völlig zu Recht - intensiv auseinandersetzen: Nationalsozialismus, Holocaust, Bombenkrieg. Nur ein Thema geht dabei verloren und das ist das Thema "Besatzung". "Besatzung" heißt ja, dass nicht nur Verbrecher am Krieg oder Okkupationen beteiligt sind, sondern auch ganz normale Menschen.   

Zur Person
Robert Traba studierte an der Kopernikus-Universität in Toruń/Thorn Geschichte, Politik und Kulturwissenschaften. Seine wissenschaftliche Tätigkeit begann er im Forschungszentrum der Polnischen Historischen Gesellschaft in Olsztyn/Allenstein. 1995-2003 war Traba wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts Warschau. Aktuell ist er Direktor des Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Er ist Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission sowie Ehrenprofessor der Freien Universität Berlin.

tagesschau.de: Warum ist diese Auseinandersetzung für das deutsch-polnische Verhältnis so wichtig? 

Traba: Die Deutschen würden dann die ein oder andere polnische Reaktion auf gewisse Diskussionen in Deutschland besser verstehen können.

tagesschau.de: Sie glauben also, die Deutschen unterschätzen die Bedeutung der Kriegsfolgen für die Polen? 

Traba: Ich denke schon. Neben den vielen anderen deutschen Tragödien ist das Interesse der durchschnittlichen deutschen Bevölkerung an der speziell polnischen Problematik tatsächlich nicht sehr ausgeprägt.

tagesschau.de: Ist das ein Vorwurf?

Traba. Nein, nur ein Befund, aus dem sich ja auch etwas ableiten lässt. Wir sollten eben nicht nur Opferkult ritualisieren, es muss uns darum gehen, Geschichte zu verstehen. Sie müssen sich einfach klar machen: Zwanzig Prozent der polnischen Bevölkerung sind im Zweiten Weltkrieg getötet worden - sowohl von den deutschen als auch von den sowjetischen Besatzern. Das bedeutet, dass bis heute eigentlich jede polnische Familie im Krieg Angehörige verloren hat. Das ist einfach wichtig zu wissen, wenn man sich in Deutschland über manche Reaktionen - manchmal auch übertriebenen Reaktionen - der Polen wundert.

tagesschau.de: Also doch ein Vorwurf?

Traba: Nein. Ich bin wirklich kein Freund von "Opfer-Buchhalterei". Manchmal fehlt es einfach an Wissen - und dann entsteht Gleichgültigkeit.

tagesschau.de: Wird ihrer Meinung nach dem 70. Jahrestag des Kriegsbeginns in Deutschland zu wenig Beachtung geschenkt?

Traba: Was dieses Datum angeht, gibt es in Deutschland und Polen schon eine auffällige Asymmetrie in der Wahrnehmung. In Polen ist das Interesse enorm - mir manchmal sogar schon zu viel. In Deutschland war das bisher weniger ausgeprägt. Obwohl es in diesem Jahr mehr Berichterstattung und öffentliches Interesse auch von der deutschen Seite gibt. Das finde ich gut und wichtig.

tagesschau.de: Wie sehen sie die Zukunft des deutsch-polnischen Verhältnisses?

Traba: Ich denke, wir haben, trotz aller noch vorhandenen Mängel, wirklich das Zeug dazu, ein richtiges Paradebeispiel für eine gelungene Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte zu werden. Wenn wir uns anschauen, wie viel Hass, Gewalt und Trauer früher einmal zwischen Deutschland und Polen lagen und was mittlerweile gemacht wird, um das zu ändern, ist das schon beachtlich. Denken Sie etwa an die Arbeit all der Einrichtungen, die sich um einen Austausch zwischen Polen und Deutschland und die Aufarbeitung der Geschichte bemühen. Das sind Hunderte. Der Weg ist zwar noch weit - aber die Richtung stimmt.

Die Fragen stellte Niels Nagel, tagesschau.de