Wahl des EU-Parlamentschefs Verhofstadt steigt aus
In Straßburg wird heute der nächste EU-Parlamentspräsident gesucht. Kurz vor Beginn der Wahl die Überraschung: Der Liberale Verhofstadt zog seine Kandidatur zurück. Seine Fraktion ging offenbar ein Bündnis mit der EVP ein. Damit steigen die Chancen für deren Kandidaten Tajani.
Kurz vor Beginn der Wahl eines neuen Präsidenten des Europaparlaments hat der liberale Kandidat Guy Verhofstadt seine Kandidatur zurückgezogen. Dies teilte der scheidende Amtsinhaber Martin Schulz mit. Damit verbessern sich die Chancen des konservativen Kandidaten Antonio Tajani: Seine Europäische Volkspartei (EVP) schmiedete ein Bündnis mit den Liberalen im Parlament, wie EVP-Fraktionschef Manfred Weber auf Twitter mitteilte. Nach Angaben aus Fraktionskreisen hatte Verhofstadt seinen Rückzug zuvor mit der EVP abgesprochen. Seine Fraktion bestätigte, dass sie nun Tajani unterstützen wolle.
Damit nähert sich der ehemalige EU-Kommissar Tajani einer Mehrheit. Seine Fraktion ist mit 217 Abgeordneten ohnehin die stärkste. Nun kann er auf Stimmen aus den Reihen der 68 liberalen Abgeordneten zählen. Zudem könnten Abgeordnete der konservativen Fraktion EKR für ihn stimmen, falls deren Kandidatin Helga Stevens in späteren Wahlgängen ausscheidet. Die Fraktion hält 74 Sitze.
Pittella als aussichtsreichster Gegenkandidat
Aussichtsreichster Gegenkandidat von Tajani ist der Italiener Gianni Pittella, der für die 189 Sozialdemokraten und Sozialisten in die Wahl geht. Entschieden wird das Rennen spätestens im vierten Wahlgang, wenn nur noch die beiden stärksten Kandidaten antreten und eine einfache Mehrheit reicht. Der ehemalige belgische Ministerpräsident Verhofstadt galt zeitweise als Kompromisskandidat mit Außenseiterchancen.
Schulz hatte sich Ende November entschieden, als Spitzenkandidat für die nordrhein-westfälische SPD in die Bundestagswahl im September zu ziehen. Er ist zudem als Bundesaußenminister und als ein SPD-Kanzlerkandidat im Gespräch.
Antonio Tajani gehört zur Forza Italia des früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Tajani, früher als Journalist tätig, hat die Partei mitgegründet.
Bevor Tajani 2010 Vize-EU-Kommissionspräsident mit Zuständigkeit Industrie wurde, war er ab 2008 EU-Kommissar für Verkehr - in der Zeit, als es bereits Hinweise darauf gab, dass Autohersteller bei den Abgaswerten manipuliert haben könnten. Es steht der Vorwurf im Raum, Tajani habe weggeschaut.
Für die Grünen gilt er als "unwählbar". Auch bei Sozialdemokraten, Linken, Liberalen und einzelnen Konservativen weckt Tajani Abwehrreflexe. Vielen gilt er als "Berlusconi-Freund" und politisch insgesamt zu weit rechts. Tajani gilt als Netzwerker. EVP-Fraktionschef Manfred Weber lobte ihn als "überzeugten Europäer".
Der Italiener Gianni Pittella gehört zur Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) mit 189 Abgeordneten. Er sitzt seit 1999 im EU-Parlament, war zwischen 2009 und 2014 einer dessen Vizepräsidenten und 2014 bereits interimsmäßig EU-Parlamentspräsident, bis Martin Schulz in dem Amt bestätigt wurde. Seit 2014 ist Pittella Fraktionschef. Genau das aber ist ein Problem: Die EVP wirft ihm vor, mit seiner Kandidatur gegen die Vereinbarung zu verstoßen, nach der das Amt des EU-Parlamentspräsidenten nach zweieinhalb Jahren - also jetzt - an die EVP gehen soll. Pittella argumentiert dagegen, dass dann alle drei EU-Institutionen von der EVP geführt würden: EU-Kommissionspräsident ist Jean-Claude Juncker, Donald Tusk steht dem Europäischen Rat vor.
Der studierte Mediziner Pittella gilt als versierter Europapolitiker, dem viel an der europäischen Integration gelegen ist. Im EU-Parlament selbst will er für mehr Transparenz und demokratischere Prozesse sorgen. Auch seine Fraktion braucht Verbündete, um Pittella in den ersten Wahlgängen die nötige absolute Mehrheit zu verschaffen.