Interview

Politikwissenschaftler wirft EU Versagen vor "Europäische Ukraine-Strategie in der Sackgasse"

Stand: 29.10.2012 15:19 Uhr

Die Parlamentswahl in der Ukraine hat die Macht des Amtsinhabers bestätigt, aber auch die Rolle der Opposition gestärkt. Allerdings bezweifelt der Politikwissenschaftler Stefan Meister im Interview mit tagesschau.de, dass diese Chance genutzt wird. Die Strategie der EU bezeichnet Meister als gescheitert.

tagesschau.de: Wiktor Janukowitsch bleibt in der Ukraine an der Macht - bleibt auch sonst alles beim Alten?

Stefan Meister: Janukowitschs Partei wird auch nach diesen Parlamentswahlen über die Mehrheit verfügen und gemeinsam mit den Kommunisten die größte Fraktion stellen. Geändert hat sich, dass die Opposition gestärkt aus dieser Wahl hervor gegangen ist. Wenn sich die verschiedenen oppositionellen Parteien also auf ein gemeinsames Abstimmungsverhalten einigen, dann sind sie auch in der Lage, Gesetze zu blockieren. Das ist ein wichtiges Signal.

Neben der Opposition sind aber auch radikale Gruppen gestärkt worden. Die rechte Freiheitspartei als regionale Partei hat acht Prozent erreicht. Das wird zu einer Radikalisierung der politischen Debatte in der Öffentlichkeit führen.

Zur Person
Stefan Meister ist Russland-Experte des Think-Tanks European Council on Foreign Relations (ECFR). Zu seinen Fachgebieten zählen die russische Außen- und Sicherheitspolitik und die EU-Russland-Beziehungen. Meister hat Politikwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Jena, Leipzig und Nischni Nowgorod studiert. Mehrfach war er als Wahlbeobachter für die OSZE tätig.

tagesschau.de: Soweit man die Zahlen bislang kennt: Welches Ergebnis für welche Partei hat Sie am meisten überrascht?

Meister: Ich habe mit diesem Ergebnis ungefähr gerechnet. Ich finde, dass Witali Klitschko und seine neue Partei durchaus einen Achtungserfolg eingefahren haben. Klitschko ist nur für einen bestimmten Teil der Bevölkerung wählbar. Er gilt als pro-westlich und EU-nah. Er spricht eher einen jungen und progressiven Teil der Bevölkerung an, der zum Beispiel in Kiew im Westen des Landes lebt. Sein Problem war, dass er durch die Begrenzung des Medienzugangs im Osten des Landes nicht so präsent war.

Davon abgesehen ist Klitschko relativ spät in den Wahlkampf eingestiegen, so dass es ihm an Zeit fehlte, um noch mehr Stimmen zu gewinnen. In den deutschen Medien ist sicherlich auch die Bedeutung seiner Rolle übertrieben dargestellt worden.

Einig in der Ablehnung

tagesschau.de: Wird die Opposition ihrer neuen gestärkten Position gerecht werden?

Meister: Die Opposition ist sich darüber einig, dass sie den Präsidenten ablehnt. Ansonsten ist sie sich über fast nichts einig. So hatte Julia Timoschenko sich der Freiheitspartei eher angenähert, während sich Klitschko klar distanziert hatte. In unserem politischen System würde man die Freiheitspartei als neofaschistisch und rassistisch bezeichnen, absolut nicht hoffähig.

Man kämpft also gegeneinander, man diffamiert einander. Das ist das Grundproblem in der Ukraine. So ist der ehemalige Präsident Wiktor Juschtschenko einer der größten Feinde von Julia Timoschenko. Es ist zu befürchten, dass sich das Verhältnis von Klitschko und Timoschenko ähnlich schlecht entwickelt. Personen zählen immer noch mehr als Inhalte und die Zukunft des Landes. Das verhindert Veränderung und Wandel und stärkt Janukowitschs Partei der Regionen.

tagesschau.de: Schon im Vorfeld der Wahl wurden Manipulationen befürchtet. Rechnen Sie damit, dass sich dieser Verdacht erhärtet oder glauben Sie an eine faire und freie Wahl?

Meister: Daran glaube ich nicht. Dafür wissen wir einfach schon zu viel: Wie auf Medien Druck ausgeübt wurde, wie auf Direktkandidaten Druck ausgeübt wurde. Aber ich glaube, dass am Wahltag selbst die Verstöße nicht so gravierend waren, dass das Ergebnis radikal verändert wurde. Das ist der entscheidende Punkt. Das Ergebnis spiegelt im Großen und Ganzen das Wählerverhalten wider. Es waren sehr viele internationale Wahlbeobachter vor Ort, und auch die russischen NGOs haben eine sehr gute Wahlbeobachtung organisiert.

Stephan Laack, S. Laack, ARD Moskau, zzt. Kiew, 29.10.2012 07:01 Uhr

Keine Richtungsentscheidung

tagesschau.de: Was bedeutet das Wahlergebnis für den Kurs der Ukraine? Geht der Richtung Russland oder Richtung Europäische Union?

Meister: Diese Wahl bedeutet keine Richtungsentscheidung. Die Politik wird ungefähr so weiter gehen wie bisher. Man wurschtelt sich durch. Man entscheidet sich weder für die eine noch für die andere Seite und schaut vor allem danach, wie man am besten Geld verdient. Janukowitsch wird sich nicht für Russland entscheiden, aber er muss eine Entscheidung über den Preis für russisches Gas treffen. Das ist ein massives Problem für die ukrainische Wirtschaft.

Dass es keine Richtungsentscheidung gibt, ist schlecht für die Ukraine. Es wird weiterhin keine umfassenden Reformen geben. Damit steigt das Frustrationspotenzial.

tagesschau.de: Und was bedeutet das Wahlergebnis für die Europäische Union? Wird die ihre kritische Haltung gegenüber der Ukraine überdenken müssen?

Meister: Die EU ist mit ihrer Politik gescheitert. Die EU glaubte, im Vorfeld der Wahlen Druck ausüben zu können und die Wahlen beeinflussen zu können. Das hat sie nicht geschafft. Sie hat weder die oppositionellen Kräfte stärken noch für Timoschenkos Entlassung aus dem Gefängnis sorgen können. Damit steckt die EU mit ihrer Strategie in einer Sackgasse. Darüber muss man in Brüssel dringend nachdenken und auch darüber, wie man zum Beispiel das Freihandelsabkommen abschließen kann, um dann im Prozess der Umsetzung auf die Eliten einzuwirken. Dadurch ließen sich dann pro-europäische Kräfte in der Ukraine stärken. Allerdings muss auch die ukrainische Seite im Fall Timoschenko Kompromissbereitschaft signalisieren. Es geht um einen erheblichen Gesichtsverlust.

Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de