Parlamentswahl in Ukraine "Großes Bedürfnis nach neuen Gesichtern"
Viele Ukrainer wünschten sich eine neue Politikerlandschaft im Parlament, sagt ARD-Korrespondent von Osten im tagesschau24-Interview. Mit der neuen Mehrheit im Rücken müsse Selenskyj aber schnell konkrete Ergebnisse vorweisen.
tagesschau24: Ein großer Teil der ukrainischen Wähler hat sich dafür entschieden, den bisher führenden Parteien den Rücken zu kehren. Woran liegt das?
Demian von Osten: Das liegt daran, welche Prioritäten die Ukrainer bei ihrer Wahlentscheidung haben. So ein Argument wie Kompetenz, also dass Menschen wirklich politische Erfahrung mitbringen, das zieht überhaupt nicht bei den Ukrainern im Moment. Wenn wir an Wahllokalen nach den Gründen für die Wahlentscheidung gefragt haben, dann hieß es: "Wir brauchen neue Gesichter, wir brauchen andere Politiker im Parlament."
Das ukrainische Parlament hat einen ausgesprochen schlechten Ruf. Viele Abgeordnete gelten als abhängig von einflussreichen Oligarchen. Das Thema Korruptionsbekämpfung ist eines der wichtigsten in der Ukraine, und da sehen die Ukrainer das Parlament auch an vorderster Stelle für verantwortlich.
tagesschau24: Selenskyj ist ja schon seit einigen Wochen Präsident, wenn auch bislang ohne parlamentarische Mehrheit. Hat er denn als Präsident auch schon dem entsprochen, was seine Wähler von ihm erwarten?
von Osten: Symbolisch hat er schon die Volksnähe gezeigt, die er im Wahlkampf versprochen hat. Ansonsten ist es noch relativ früh, das zu beurteilen. Denn in der Ukraine kann der Präsident im Bereich der Außenpolitik eigenständig handeln, aber nicht im innenpolitischen Bereich. Das heißt, ohne eine parlamentarische Mehrheit war Selenskyj im Grunde nicht in der Lage, wirklich nennenswert Dinge voranzubringen.
Im außenpolitischen Bereich hat man ein paar Entwicklungen gesehen, was vor allen Dingen das zweite große Thema hier im Land angeht: Frieden zu schaffen im Osten des Landes. Nach wie vor wird dort immer wieder gekämpft, es gibt jede Woche Tote und Verletzte in dem Krieg. Selenskyj hat beispielsweise mit Russlands Präsident Wladimir Putin darüber telefoniert, das war eine Initiative des ukrainischen Präsidenten.
Es gibt eine neue Waffenruhe, und eine wichtige Brücke wird repariert - die einzige Zugangsbrücke zur selbst ernannten Lugansker Volksrepublik. Das sind ein paar kleine, aber wichtige Verbesserungen im Zusammenhang mit dem Krieg. Und jetzt hoffen viele, dass er weitere Schritte unternehmen kann, wenn Selenskyjs Partei nun im Parlament eine Mehrheit hat.
tagesschau24: Sollte er einen Koalitionspartner brauchen, dann käme wohl die Partei eines Rockstars in Frage. Was sagt das aus über das Land, dass ein Schauspieler und dann womöglich auch ein Sänger die Geschicke des Landes lenken?
von Osten: Auch die Partei des Rockstars ist eine neu gegründete Partei, erst vor wenigen Monaten geschaffen. Sie heißt "Die Stimme" und besteht auch aus Leuten, die nicht in der Politik Erfahrung haben. Es zeigt das große Bedürfnis der Ukrainer nach neuen Gesichtern in der Politik, auch die große Frustration mit den früheren Politikern.
Es zeigt auch, so hat das zumindest ein Experte und Philosoph im Gespräch mit uns analysiert, ein positiveres Image von Künstlern und Stars gegenüber Politikern und eine Art Vertrauensvorschuss.
Aber auch das müssen sie am Ende einlösen. Das gilt auch für Selenskyj, dass er in den nächsten drei bis sechs Monaten sicherlich konkrete Ergebnisse vorweisen muss, damit die Menschen ihm weiter sympathisch gegenüberstehen.
tagesschau24: Aber genau diese von der Mehrheit gewünschten neuen und unverbrauchten Gesichter sind ja nun politisch unerfahren. Können Sie es denn überhaupt mit ausgebufften Politikern vom Schlage Putins aufnehmen?
von Osten: Zumindest die Wähler, die nicht für Selenskyj und seine Partei gestimmt haben, haben genau davor Angst: Dass er womöglich gegenüber Russland bei direkten Gesprächen Zugeständnisse macht. In der Ukraine geht es da vor allen Dingen um die nicht von der Regierung kontrollierten Territorien in der Ostukraine und die Halbinsel Krim. Beides ist für die Mehrheit der Ukrainer absolut nicht verhandelbar.
Selenskyj hat aber auch in seiner Wortwahl in den vergangenen Wochen deutlich gemacht, dass das für ihn ebenfalls nicht verhandelbar ist. Hier hat er versucht, den Ukrainern die Sorgen zu nehmen. Er hat ein Treffen vorgeschlagen mit Putin. Man muss sich anschauen, wie das ausgeht und welche Möglichkeiten er da hat, Interessen der Ukraine durchzusetzen.
Das Interview wurde für die schriftliche Fassung gekürzt und redigiert. Die Fragen stellte Gerrit Derkowski.