Türkisch-griechische Grenze "Macht die Türen auf, habt keine Angst"
Tausende Migranten harren an der Grenze zu Griechenland aus und hoffen auf eine Grenzöffnung. Doch die EU setzt auf Abschottung - laut Türkei geschehen dabei auch Menschenrechtsverletzungen. Überprüfen lässt sich das nicht.
Ibrahim steht an einem Nebenarm des Grenzflusses Evros bei der türkischen Stadt Edirne. Der 18-Jährige zeigt auf den Verband an seinem Oberschenkel.
Die griechischen Soldaten haben geschossen. Hier hat mich ein Gummigeschoss getroffen. Dann haben sie allen die Schuhe genommen und zusammen mit allem anderen, was wir hatten, in den Müll geworfen - die Kleidung, das Essen. Ich hatte 700 Türkische Lira, auch die haben sie genommen, und auch mein Handy. Ich habe gesagt, Allah Allah, und sie haben gesagt, sie kennen keinen Allah und haben sich bekreuzigt.
Der junge Syrer aus Idlib hatte es geschafft, über den Grenzfluss zu kommen. Die griechischen Grenzschützer brachten ihn umgehend zurück.
Immer mehr Berichte über Schüsse
Auch er habe gesehen, wie geschossen wurde, berichtet der 38 Jahre alte Adil, ebenfalls aus Idlib. Blendgranaten, Tränengas, Gewehrschüsse. Neben ihm sitzt eine 17-Jährige am Ufer, nur durch eine dünne Decke von der kühlen Erde getrennt, vor dem Gesicht ein Schal gegen die Abendkälte.
Wir haben Schüsse gehört, dann schrien wir: 'Um Gottes Willen, macht das nicht!'. Der Lärm war schrecklich. Ich bin seit zweieinhalb Jahren verheiratet, jetzt war ich schwanger. Doch als die griechischen Soldaten geschossen haben, habe ich mein Baby verloren.
Die türkische Regierung spricht von sechs Migranten, die durch Schüsse verletzt wurden, einer von ihnen soll im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen sein. Offizielle Stellen verbreiten im Internet Videos, die das belegen sollen. Trotzdem bleiben Zweifel, sagt Michel Brandt. Der Bundestagsabgeordnete der Linkspartei hat sich selbst ein Bild von der Lage im Grenzstreifen gemacht. "Wenn man sich das Video anschaut: Die Örtlichkeit passt, das Wetter passt. Geflüchtete berichten ja auch, dass Schüsse gefallen sind. Das haben wir auch direkt gehört. Inwieweit jetzt allerdings die griechische Seite geschossen hat, lässt sich derzeit nicht verifizieren."
Griechische Regierung dementiert
Die griechische Regierung dementierte umgehend, und der Gouverneur von Edirne leitete eine Untersuchung ein. Offensichtlich sei, so Brandt, dass Menschen mit aller Gewalt von der Grenze ferngehalten würden. Mit den Werten, die sich die EU selbst gegeben hat, habe das nichts mehr zu tun.
Krankenwagen, die immer wieder zur Grenze fahren, verheißen nichts Gutes. Die griechische Regierung schätzt, dass sich dort 12.500 Migranten aufhalten. Am Nachmittag verbannten die türkischen Sicherheitskräfte alle Beobachter aus dem Grenzstreifen, Politiker wie Brandt, aber auch Journalisten. Welche Bilder jetzt von dort in die Welt gehen - das will offenbar der türkische Staat allein unter Kontrolle haben.
Abgeriegeltes Grenzgebiet
Auch für Flüchtlinge ist es zum Teil unmöglich geworden, aus dem Grenzgebiet herauszukommen - oder hinein, wie ein Familienvater aus Syrien berichtet:
Meine Frau und die drei Kinder sind noch im Grenzstreifen. Sie wollen zurück, aber die türkische Polizei lässt sie nicht. Ich bin mehrmals zur Polizei gegangen und habe gesagt, dass ich rüber will, aber sie haben gesagt: 'Jetzt nicht, Bruder'. Ich habe keine Kontakt mehr zu meiner Frau. Sie hat zwar ein Handy, aber der Akku ist leer. Dort gibt es keinen Strom, kein Essen, nichts.
Das Innenministerium versucht Flüchtlinge und Migranten in der Türkei durch Mitteilungen in sozialen Netzwerken vom Grenzübertritt nach Griechenland und einer Weiterreise nach Deutschland abzuhalten. "Die Grenzen Europas sind für die Flüchtlinge aus der Türkei nicht geöffnet und das gilt auch für unsere deutschen Grenzen", twitterte die Behörde auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Farsi. Auslöser der Aktion ist, dass auf türkischer Seite der Grenze zu Griechenland Tausende Menschen versuchen, in den EU-Staat zu gelangen.
Ibrahim, der junge Syrer mit der Wunde am Oberschenkel, schaut in der Abenddämmerung flehend Richtung Griechenland. Er kann nicht verstehen, warum sich das Land dermaßen abschottet:
Macht die Türen auf, habt keine Angst, ich werde schon nicht in Griechenland bleiben. Ich will nur ein paar Tage ausruhen und dann weiter nach Europa. Niemand hier will in Griechenland bleiben.