Türkische Offensive in Syrien "Das Ziel sind die Kurden"
Die türkische Offensive in Syrien gilt weniger dem IS als mehr den Kurden, sagt Nahostexperte Bank im Interview mit tagesschau.de. Diese könnten Ankara zu mächtig werden. Dass die USA - eigentlich Verbündete der syrischen Kurden - Ankara unterstützen, lässt einen Strategiewechsel erkennen.
tagesschau.de: Wem galt die türkische Militäroffensive in Nordsyrien wirklich - der Terrororganisation "Islamischer Staat" oder den Kurden dort?
André Bank: Der offizielle Vorwand war natürlich, den IS zu bekämpfen. De facto ging es meines Erachtens nach aber vor allem darum, die syrischen Kurden zurückzudrängen. Die kurdischen Verbände in Nordsyrien hatten es in den vergangenen Wochen geschafft, durch die Eroberung der Stadt Manbidsch ihr Machtgebiet nach Westen auszudehnen. Aus türkischer Sicht ist das Problem dabei, dass die Kurden mit der Einnahme von Dscharablus ein zusammenhängendes Herrschaftsgebiet direkt südlich der türkischen Grenze aufbauen - und das wollte Ankara nicht akzeptieren.
Der Islamwissenschaftler und Politologe André Bankist arbeitet am Hamburger GIGA-Institut für Nahost-Studien. Er forscht zu Autoritarismus und Konflikten unter anderem in Syrien.
tagesschau.de: Der türkische Außenminister - und auch US-Vizepräsident Joe Biden - haben betont, dass die Kurden sich bis östlich des Euphrat zurückziehen sollen. Welche strategische Bedeutung hat der Fluss?
Bank: Die Kurden kontrollieren bereits weite Teile in Nordostsyrien, vor allem die Provinz al Hasaka. Sie haben aber auch ein kleines Gebiet ganz im Nordwesten unter ihrer Kontrolle - den Kanton Afrin. Wenn sie nun noch die Macht westlich des Euphrat erlangen würden, würden sie den gesamten Norden Syriens kontrollieren - eine Region von mehreren tausend Quadratkilometern Ausdehnung. Und da wollte die Türkei einen Keil dazwischentreiben, entlang des wichtigen Flusses Euphrat.
tagesschau.de: Spielt auch die Angst mit in die Entscheidung, die Kurden könnten in den jahrelangen Kampf um Aleppo eingreifen?
Bank: Noch spielen die Kurden keine bedeutende Rolle in Aleppo. Wenn sie aber die Region nördlich davon beherrschen würden, könnten sie bei der Eroberung Aleppos mitwirken. Das würde ihnen enormen Auftrieb verleihen. Einerseits moralisch - sie könnten damit ihre weiteren Herrschaftsansprüche untermauern - anderseits militärisch und wirtschaftlich. Die Stadt war bis zum Krieg das ökonomische Zentrum Syriens und ist für den weiteren Verlauf des Krieges von großer strategischer Bedeutung.
tagesschau.de: Die USA haben die Offensive der Türkei gegen Dscharablus mit Luftschlägen unterstützt, zeitgleich reiste der amerikanische Vizepräsident nach Ankara. Warum tut Washington das - schließlich haben sie bislang die Kurden unterstützt?
Bank: Washington will die Großwetterlage mit Ankara verbessern. Denn die Türkei ist in vielfacher Hinsicht ein wichtiger Partner. Zum einen ist sie NATO-Mitglied, und die USA wollen weiterhin militärische Infrastruktur nutzen, wie die Luftwaffenbasis in Incirlik. Zum anderen ist Ankara der wichtigste regionale Verbündete, der sich den Assad-Unterstützern Russland und Iran entgegenstellt.
Das heißt aber nicht, dass die USA nicht weiter die kurdischen Verbände unterstützen, wenn es um den Kampf gegen den IS geht. Denn die USA brauchen die Kurden. Sie sind schließlich so etwas wie die Bodentruppen, ohne die eine effektive Bekämpfung der Terrororganisation nicht möglich wäre. Die Kurden waren die ersten, die dem IS 2015 eine schwere militärische Niederlage beibrachten, nämlich im Kampf um die Stadt Kobane. Das Problem dabei ist, dass die USA durch diese Unterstützung und Zusammenarbeit auch indirekt die Gebietsansprüche der Kurden akzeptiert haben.
Ohne die Kämpfer der YPG-Milizen wäre ein Vorgehen gegen den IS kaum möglich.
tagesschau.de: Das türkisch-amerikanische Verhältnis gilt seit längerem als belastet. Könnte auch die Personalie Fethullah Gülen bei diesem Strategiewechsel der USA eine Rolle spielen?
Bank: Definitiv. Ich interpretiere das Entgegenkommen der USA so, dass sie mit der militärischen Unterstützung gegen die Kurden Ankara besänftigen wollen, um in der Frage Gülen hart bleiben zu können. Denn Washington will Gülen nicht ausliefern, um die zunehmend autokratischen Herrschaftstendenzen von Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht noch zu unterstützen. Das hat auch Joe Biden klargemacht, als er bei seinem Türkeibesuch sagte, die Frage der Auslieferung könne kein Politiker, sondern nur ein Gericht in den USA entscheiden.
tagesschau.de: Nicht nur die USA, auch die Türkei scheint ihre Strategie zu ändern: Sie nähert sich Russland an und deutet an, Syriens Präsident Assad nun doch als Teil einer Übergangsregierung zu akzeptieren - warum?
Biden und Erdogan besprachen sich am Tag der Offensive gegen die Kurden.
Bank: Die Türkei steht in vielerlei Hinsicht mit dem Rücken zur Wand. Zwar sitzen die AKP und Präsident Erdogan nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli fest im Sattel. Aber vor allem ökonomisch sieht das anders aus. Durch die Terroranschläge bleiben Touristen und auch internationale Investitionen aus. Dazu kommt, dass das Land außenpolitisch isoliert ist. Viele ehemalige Partner wie die EU haben sich von ihr abgewendet. Deshalb öffnet sich die Türkei nun zunehmend Russland und dem Iran - unter anderem mit der Folge, dass sie die russische Position unterstützt, der syrische Präsident Assad solle Teil einer möglichen Übergangsregierung sein. Dies hatte sie - und übrigens auch die USA - bislang immer strikt ausgeschlossen.
Die USA und die Türkei sind derzeit beide geschwächte Akteure in dem Konflikt. Überspitzt formuliert könnte man sagen, hier treffen sich zwei Verlierer, um gemeinsam ihre Strategie zu ändern.
tagesschau.de: Welche Ziele verfolgen die kurdischen Gruppierungen in Syrien, im Irak und in der Türkei?
Bank: Es gibt vier große kurdische Gemeinschaften: in der Türkei, im Irak, in Syrien und im Iran. Die syrischen Kurden sind politisch in der PYD organisiert, deren militärischer Arm die YPG sind. Diese sind mit den Peschmerga, den Kurden im Irak, verfeindet - es kommt deshalb auch immer wieder zu Kämpfen zwischen syrischen und irakischen Kurden. Mit den Kurden in der Türkei, allen voran der PKK, sind PYD und YPG dagegen eng verbunden.
tagesschau.de: Sind die Kurden deshalb eine existenzielle Gefahr für die Türkei, wie es Erdogan immer darstellt?
Bank: Für eine multikurelle, pluralistische Türkei, in der mehrere Gruppen nebeneinander leben, nicht. Für eine zentralistisch-nationalistische Türkei, die stark sunnitisch-islamisch geprägt ist, schon eher. Leider ist letzteres das Projekt, das Erdogan mit seiner Politik verfolgt. Da passen eher säkular geprägte Kurden, die in weiten Teilen Autonomie fordern, natürlich nicht rein. Deshalb geht die türkische Regierung auch so massiv gegen sie vor - und wird dies auch weiterhin tun.
Das Interview führte Alexander Steininger, tagesschau.de