Gedenken an Tschernobyl-Opfer Ein Experiment, das in der Katastrophe endete
In der Ukraine ist der Atomkatastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren gedacht worden. Bei der Explosion am 26. April 1986 trat Radioaktivität in zuvor ungeahntem Ausmaß aus. Die Welt erlebte den ersten Super-GAU - und die UdSSR setzte alles daran, die Katastrophe zu vertuschen.
Von Christina Nagel, ARD-Hörfunkstudio Moskau
Eigentlich hätte das Experiment vor Inbetriebnahme des Reaktors im Dezember 1983 durchgeführt werden sollen. Aber dazu kam es nie. Auch am 25. April 1986 hatte es wieder Verzögerungen gegeben. Die Nachtschicht sollte den Test nun endlich zu Ende bringen.
Ein vollständiger Stromausfall sollte simuliert werden, um nachzuweisen, dass die Rotationsenergie der Turbinen ausreichen würde, um die kurze Zeit bis zum Anspringen der Notstromaggregate zu überbrücken Es begann eine verhängnisvolle Kettenreaktion - eine Mischung aus menschlichem Versagen, Unkenntnis, Materialschwächen und Sicherheitsmängeln. Um 1.23 Uhr explodierte der Reaktorblock 4.
Der zerstörte Reaktorblock in Tschernobyl im Mai 1986
"Es passierte das, was niemand für möglich gehalten hatte. Es waren Spezialisten, sie hatten Erfahrungen mit Havarien. Aber keiner der Anlagen-Techniker hat geglaubt, dass ein Atomkraftwerk explodieren kann. Es gab Unkenntnis auf allen Ebenen. Angefangen bei mir, dem Chef von 30 Aufklärern, bis hin zu Staatschef Gorbatschow", sagt Sergej Mirnij. Er wurde nach der Katastrophe als Strahlenmess-Aufklärer nach Tschernobyl geschickt. In der Theorie wusste der Reserveoffizier fast alles über Radioaktivität. Die Realität sei eine andere gewesen, erinnert er sich heute.
Noch immer nicht alle Fragen geklärt
Wie groß die Mengen radioaktiven Materials waren, die durch die gewaltige Explosion in die Luft geschleudert wurden, darüber streiten sich Experten bis heute. Die Zahlen schwanken zwischen fünf und 95 Prozent der Kernbrennstoffs.
Die sowjetische Führung setzte alles daran, den Unfall zu vertuschen. Eine Nachrichtensperre wurde verhängt. Selbst die Menschen in der Kraftwerksstadt Pripjat, die nur wenige Kilometer vom Reaktor entfernt liegt, habe man im Unklaren gelassen, sagt Nikolaj Fomin, der Besucher durch die heutige Geisterstadt führt. "Es gab hier sehr viele Kinder. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung lag bei 26. Auf die 45.000 Einwohner kamen jährlich Tausend Neugeborene. Das ist ernorm. Deshalb gab es hier auch viele Schulen und Kindergärten."
In allen wurde nach dem Unglück weiter gespielt, gelernt. In den Höfen getobt. Unter strahlend blauem Himmel. Erst 36 Stunden nach der Katastrophe wurde die Stadt evakuiert.
"Offenbar ein ernster Atomunfall"
Am 28. April wurden in Schweden erhöhte radioaktive Werte gemessen. Der Unfall ließ sich nicht mehr verheimlichen. Die Tagesschau meldete um 20 Uhr:
"In der Sowjetunion hat sich offenbar ein ernster Atomunfall ereignet. Nach Angaben der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass traten an einem Kernkraftwerk bei Kiew Schäden am Reaktor auf. Durch die radioaktive Strahlung sollen auch Menschen zu Schaden gekommen sein. Weiter heißt es in der Meldung, den Betroffenen werde Hilfe geleistet. Es wird aber nicht gesagt, wann sich das Unglück ereignet hat oder wodurch es verursacht wurde."
Erst am 29. April sprachen sowjetische Quellen von einer Katastrophe. Da hatte die radioaktive Wolke längst den Westen Europas erreicht. Auch in Deutschland hatte es radioaktiven Niederschlag gegeben.
"Liquidatoren" ohne Schutzanzug im Einsatz
Während in Kiew Hunderttausende ahnungslos an den offiziellen Mai-Kundgebungen teilnahmen, versuchten die so genannten Liquidatoren ohne Schutzausrüstung verzweifelt, den Reaktorbrand zu löschen.
Wie viele Opfer die Strahlung bis heute gefordert hat, ist unklar. Studien und Statistiken gingen weit auseinander, sagt Greenpeace Atomexperte Tobias Münchmeyer: "Die internationale Atomenergiebehörde, die schon zu Recht in dem Ruf steht, eher Zahlen auch drücken zu wollen, nach unten korrigieren zu wollen, war gezwungen, ihre Zahlen von 4000 hoch auf 9000 nach oben zu korrigieren."
Greenpeace-Studien gehen von über 90.000 Krebstoten in der Ukraine, Weißrussland und Russland aus.
Auch andere Folgen der Katastrophe sind bis heute nicht absehbar. Die Betonhülle, die vor 25 Jahren in aller Eile über dem havarierten Reaktor errichtet wurde, ist brüchig. Wie lange die Konstruktion trotz aller Sanierungsmaßnahmen noch halten wird, weiß niemand genau. Was sich im Innern des Reaktors abspielt, darüber spekulieren die Experten.
"Bis heute gibt es keine vernünftige Aufarbeitung der Geschichte der Katastrophe von Tschernobyl", bedauert Sergej Mirnij. Er weist auf Hunderte kleingedruckter Zahlen auf den Gedenksteinen am Rande der Sperrzone von Tschernobyl. Es sind die Nummern jener Brigaden, die zum Reaktor geschickt wurden, um die Folgen der Katastrophe zu beseitigen. Niemand kann genau sagen, ob es 600.000 oder 900.000 Menschen waren.