Experte zur Dekontamination verstrahlter Gebiete "Heute können Sie Pripjat wieder betreten"
Sie ist immer noch eine Geisterstadt: Pripjat. Nach dem Super-GAU in Tschernobyl waren dort 50.000 Einwohner evakuiert worden. Dennoch sei die Stadt ein Beispiel für eine gelungene Dekontamination, sagt der Experte Wolfgang Raskob. Wie das ging und was das für Japan bedeutet, erklärt er im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Sie haben am Beispiel der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl untersucht, ob und wie sich Menschen nach einem Super-GAU wieder in belasteten Regionen ansiedeln lassen. Ist das grundsätzlich möglich?
Wolfgang Raskob: Im Prinzip ja. Allerdings werden sie nur erfolgreich sein, wenn sie alle notwendigen Maßnahmen mit der Bevölkerung vor Ort abstimmen.
tagesschau.de: Was meinen Sie mit notwendigen Maßnahmen?
Raskob: Unsere Erfahrungen in der Ukraine oder auch in Weißrussland haben gezeigt, dass die Menschen verstehen müssen, was wir zu ihrem Schutz unternehmen. Also wenn Sie beispielsweise dem Bauer sagen, lass die Kühe besser nicht auf dieser belasteten Wiese grasen, sondern lieber auf einer, die zwar nur 500 Meter weit davon entfernt liegt, aber deutlich weniger kontaminiert ist, dann kannst Du künftig auch die Milch von diesen Kühen sorgenfrei trinken - dann minimieren sie das Kontaminationsrisiko von Lebensmitteln erheblich. Und das auf Dauer.
Das KIT ist eine Hochschule des Landes Baden-Württemberg und zugleich Forschungseinrichtung der überwiegend vom Bund finanzierten Helmholtz-Gemeinschaft. Es soll unversitäre und außeruniversitäre Forschung zusammenführen.
tagesschau.de: Dazu muss es aber unbelastete Wiesen geben. Kann eine Region auch aktiv dekontaminiert werden?
Raskob: Da gib es verschiedene Verfahren. Sie können etwa den Oberboden, also die obersten Bodenschichten, abtragen - das ist sicherlich die effektivste Methode. Die belastete Erde muss dann natürlich besonders deponiert werden. Für hochkontaminierte Gebiete wie Iitate wäre das eine Option. (Anmerkung der Redaktion: Die Stadt Iitate liegt rund 40 Kilometer nordwestlich von Fukushima)
"Völlige Abtragung ist illusorisch"
tagesschau.de: Aber ist das nicht etwas unrealistisch? Da fallen doch riesige Mengen an radioaktiv verseuchter Erde an.
Raskob: Sie können das nicht in einem kompletten Umkreis von 40 Kilometern um die Anlage machen. Das ist völlig illusorisch. Das geht natürlich wirklich nur in einem eng begrenzten Gebiet. Aber es gibt auch andere Methoden - etwa indem man belastete Straßen oder auch Gebäude mit Hochdruckreinigern absprüht. Das ist nicht so wirksam wie das Abtragen - aber es hilft auf jeden Fall, die Belastung deutlich zu reduzieren.
tagesschau.de: Wie schnell kann die Dekontamination einer ganzen Region denn funktionieren?
Raskob: Das ist keine Arbeit, die Sie von heute auf morgen schaffen. Das ist ein Projekt, das Jahre in Anspruch nimmt. Aber gerade in einem so dicht bevölkerten Land wie Japan gibt es dazu eigentlich keine Alternativen. Die können ja nicht ganze Gebiete unbewohnt lassen - über kurz oder lang sollten da die Menschen zurück.
tagesschau.de: Gab es in der Folge von Tschernobyl schon einmal vergleichbare Dekontaminationen?
Raskob: Ja und zwar in der Stadt Pripjat. Die liegt nur vier Kilometer vom Kernkraftwerk Tschernobyl entfernt und wurde damals massiv radioaktiv verstrahlt. Dort wurde eine sehr aufwendige Dekontamination durchgeführt. Heute können Sie die Stadt wieder betreten - ohne jedes Risiko.
"Je länger sie warten, umso schwieriger wird es"
tagesschau.de: Was können die Japaner aus den Erfahrungen, die in Tschernobyl gemacht wurden, denn lernen?
Raskob: Einiges. In unserem Forschungsprojekt EURANOS haben wir über 50 verschiedene Maßnahmen aufgeführt, welche Handlungsmöglichkeiten Sie nach einem Strahlungsunfall haben und wie sie umgesetzt werden können. Die Pläne liegen auf dem Tisch - und sollten jetzt schnell realisiert werden. Denn je länger sie abwarten, umso aufwendiger ist die Dekontamination. Weil beispielsweise das radioaktive Cäsium immer tiefer in den Boden eindringt.
tagesschau.de: Bleibt noch der Faktor Mensch. Selbst wenn sich Gebiete dekontaminieren lassen: Wollen die Menschen überhaupt zurückkehren?
Raskob: Im Grunde schon. Zumindest zeigen das die Beispiele Weißrussland und Ukraine. Die Menschen haben damals nur ungern ihre Heimat verlassen. Auch wenn diese radioaktiv verseucht wurde. Da sind die sozialen und familiären Bindungen wohl stärker. Wichtig ist allerdings, dass die Menschen Vertrauen in die Behörden haben. Fühlen sie sich beispielsweise nicht ausreichend informiert - dann ist der Rückkehrwille deutlich geringer.
Die Fragen stellte Niels Nagel, tagesschau.de