Offensive in Syrien "Die Kurden sind die ganz großen Verlierer"
Das Abkommen mit der Türkei zeigt: Ohne Russland geht in Syrien nichts. Leidtragende seien die Kurden, erklärt Nahostexperte Steinberg im tagesschau.de-Interview. Kramp-Karrenbauers Plan für eine Sicherheitszone spiele hingegen keine Rolle.
tagesschau.de: Russland und die Türkei wollen jetzt gemeinsam in Nordsyrien patrouillieren. Welche Erwartungen verbinden beide Seiten mit der Vereinbarung?
Guido Steinberg: Zunächst einmal ist dieses Abkommen eine Bestätigung der beherrschenden Rolle der Russen in Syrien. Über die Situation in Syrien muss man mit Präsident Putin reden, nicht mehr mit den USA.
Die Russen verbinden mit diesem Abkommen die Erwartung, dass sie ihren Einfluss gemeinsam mit der syrischen Regierung auch in Nordostsyrien ausweiten können. Und die Türkei will die Volksverteidigungskräfte, sprich die syrische PKK, von der Grenze fernhalten. Beide Staaten sind einen Kompromiss eingegangen, aber beide erreichen wichtige Teilziele.
tagesschau.de: Da ist auch neues Konfliktpotenzial zwischen Syrien und der Türkei programmiert.
Steinberg: Ja, das ist richtig. Die Türkei hat jetzt in einem längeren Streifen an der Grenze zwischen Ras al-Ain und Tall Abjad die Kontrolle. Darum herum stehen die Syrer gemeinsam mit den Russen, die jetzt auch selbst noch mehr Truppen in diese Zone schicken. In gewisser Weise sind also die Russen die Garanten, dass es hier nicht zu einem Konflikt zwischen der Türkei und Syrien kommt.
tagesschau.de: Die syrische Armee hat zuletzt die Kurden unterstützt, gleichzeitig ist Russland der wichtigste Verbündete von Präsident Baschar al-Assad. Wie sehr helfen ihm die neuen Pläne dabei, ganz Syrien wieder unter seine Kontrolle zu bringen?
Steinberg: Neben Russland und der Türkei ist das Assad-Regime der große Profiteur der Ereignisse der vergangenen zwei Wochen. Zum einen hat das Assad-Regime Truppen an die türkische Grenze schicken können, vor allem nach Manbidsch und nach Kobane. Das waren Gebiete, die vorher für die Syrer unerreichbar waren.
Zum anderen gibt es nun eine Übereinkunft zwischen dem Regime und den Kurden. Längerfristig werden die Kurden ihre mühsam gehaltene Autonomie wieder verlieren. Sie sind jetzt schon vollkommen vom Assad-Regime und den Russen abhängig. Das ist der größte Erfolg, den Assad hier feiern kann. Der Abzug der Amerikaner hat ihm wieder den Zugriff auf weite Teile Ostsyriens ermöglicht.
Die YPG-Kurdenmiliz hat dem Abkommen nur in dem Bereich zwischen den Städten Tall Abjad und Ras al-Ain zugestimmt. Die Türkei will hingegen das gesamte Grenzgebiet (hell gestrichelt) zur Sicherheitszone machen.<br/>
tagesschau.de: Also sind die Kurden die großen Verlierer?
Steinberg: Die Kurden sind die ganz großen Verlierer. Sie hatten über sieben Jahre eine sehr weitgehende Autonomie im Nordosten des Landes. Jetzt müssen sie viele Gebiete an ihrer Nordgrenze abgeben - an die Türken, an die Russen, an die syrischen Hilfstruppen der Türken und auch an das Regime.
Und sie verlieren auch faktisch ihre Autonomie. Es wird sicherlich noch einige Jahre dauern, bis das syrische Regime dort die Kontrolle wieder voll hergestellt hat, aber ich gehe davon aus, dass die syrisch-kurdische Autonomie am Ende ist.
tagesschau.de: Wird sich die Türkei jetzt auf diese rund 30 Kilometer breite Pufferzone beschränken? Oder hat sie in der Region noch weitere Expansionspläne?
Steinberg: Offenbar gibt es keine weiteren Expansionspläne. Das liegt vor allem daran, dass Russland den Türken diese Expansion nicht erlaubt. Für die Türkei wäre es gefährlich, gegen den Willen der Russen weiter vorzurücken. Und aus ihrer Sicht müssen sie das auch nicht, weil sie mit dieser 30-Kilometer-Zone die kurdischen Einheiten von der türkischen Grenze fernhalten. Und das war ihr erklärtes Ziel.
tagesschau.de: Wie realistisch ist es denn, dass die Zusammenarbeit zwischen Russland und der Türkei funktioniert?
Steinberg: Aus meiner Sicht wird diese Übereinkunft nur für begrenzte Zeit funktionieren. Teile der syrisch-türkischen Grenze östlich des Euphrat werden von der Türkei gehalten, Teile vom syrischen Regime und den Russen. Dort, wo die Türken präsent sind, werden sie jetzt gemeinsam mit den Russen auf Patrouille gehen. Das ist in einem souveränen Staat Syrien sicherlich keine langfristige Lösung.
Die Türken können nicht oder nur begrenzt gegen den Willen der Russen handeln. Die Russen sind der mit Abstand stärkste Akteur vor Ort, und das merkt man auch an diesem Abkommen.
tagesschau.de: Was hat Russland davon?
Steinberg: Russland hat in Syrien vor allem ein großes Ziel: dass der Verbündete Assad die Kontrolle über das gesamte Land wieder herstellen kann. Dem ist Assad nähergekommen. Gleichzeitig möchte Russland mit der Türkei engere Beziehungen pflegen - idealerweise, um hier einen Bruch in der NATO herbeizuführen.
Aus meiner Sicht ist die russische Politik sehr klug und zielorientiert. Putin kommt nicht nur seinen Zielen in Syrien, sondern auch in der Türkei-Politik näher. Die Türkei sucht die Nähe der Russen und entfernt sich damit immer weiter aus dem westlichen Bündnis. Das ist genau das, was Wladimir Putin will.
tagesschau.de: Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hat jetzt vorgeschlagen, in der Region eine international kontrollierte Schutzzone einzurichten. Welches Gewicht hat die deutsche Stimme überhaupt in der Diskussion?
Steinberg: Dieser Vorschlag spielt in der Syrien-Politik keine Rolle und hat nichts mit der Situation vor Ort zu tun. Russland und die Türkei teilen Nordsyrien gerade in Einflusssphären auf. Es ist nicht zu sehen, wie und wo dort Truppen eines weiteren Akteurs einen Platz finden könnten.
Der Vorschlag hat auch nichts mit der deutschen Syrien-Politik der vergangenen Jahre zu tun. Wenn Deutschland Truppen hätte schicken wollen, wäre das sinnvoll gewesen, als der IS noch existierte. Damals hat Deutschland auf einen nennenswerten militärischen Beitrag verzichtet. Und das kann man nicht in einer Situation, in der die Europäer überhaupt kein Akteur mehr sind, revidieren.
tagesschau.de: Welche Rolle kann Deutschland dort überhaupt noch spielen?
Steinberg: Die Russen fordern die Europäer und besonders die Deutschen schon seit einiger Zeit auf, beim Wiederaufbau in Syrien zu helfen. Die Bundesregierung wird sich in den nächsten Monaten und Jahren die Frage stellen müssen, ob sie dazu bereit ist.
Auch, wenn die türkische Regierung ihre Drohung wahr macht und Flüchtlinge nicht nur nach Syrien deportiert, sondern auch viele Flüchtlinge Richtung Ägäis schickt, wird die Bundesregierung reagieren müssen. Aber irgendeinen Einfluss auf die Situation in Syrien haben Berlin und Europa insgesamt nicht mehr.
Das Interview führte Michael Zimmermann, tagesschau.de.