Mays Rücktrittsankündigung "Der No-Deal-Brexit wird wahrscheinlicher"
Nach der Rücktrittsankündigung der britischen Premierminsterin May ist ein No-Deal-Brexit wahrscheinlicher geworden, sagt Politikwissenschaftler Rittberger. An den Voraussetzungen für die Gespräche mit der EU habe sich nichts verändert.
tagesschau.de: Kommt die Ankündigung von Premierministerin Theresa über ihren Rücktritt vom Parteivorsitz für Sie überraschend?
Berthold Rittberger: Jetzt kommt er nicht mehr überraschend. Das war in den letzten Tagen ja schon abzusehen. Gerade nachdem die Bemühungen gescheitert waren, mit Labour über eine Mehrheit für den Brexit-Deal zu verhandeln, war relativ schnell klar, dass es dem Ende zugeht. Es hat sich ja nichts geändert: Die Mehrheiten sind geblieben, die Ansichten auch.
Auch Mays Ankündigung in der vergangenen Woche, die Zustimmung zum Brexit gegebenenfalls an ein zweites Referendum zu binden, wirkte hilflos. Im Englischen oder Amerikanischen sagt man zu so einem Manöver "Hail Mary". Das ist im American Football ein Verzweiflungspass vom Quarterback, der einfach mal irgendwohin geworfen wird, in der Hoffnung, dass ihn ein Mitspieler fängt. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ihn jemand fängt, geht gegen Null.
Seit 2011 ist Berthold Rittberger Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuvor lehrte und forschte er an der Universität Mannheim und an der TU Kaiserslautern.
Rittberger promovierte 2003 an der University of Oxford in Großbritannien. Er ist einer der Herausgeber des "Journal of European Public Policy" und verfasste zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze über die EU.
tagesschau.de: Was wird nun aus der Tory-Regierung? Werden die Konservativen in der Lage sein, eine stabile Regierung zu bilden?
Rittberger: Ich glaube es nicht. Die nach wie vor alles entscheidende Frage ist der Brexit. Solange es darüber keine Einigung gibt, und solange die Regierung keine Mehrheit im Parlament bekommt, um ein Austrittsabkommen zu beschließen, wird auch eine neue Regierung gelähmt sein. Daran wird auch eine neue Parteiführung nichts ändern können.
Die britische Premierministerin Theresa May während der Verkündigung ihres Rücktritts als Parteichefin. "Beruhigend wirkt das auf keinen Fall", sagt Rittberger.
Kein Wunder in Sicht
tagesschau.de: Was bedeutet Mays Ankündigung für die britische Bevölkerung?
Rittberger: Beruhigend wirkt das auf keinen Fall. Die Bevölkerung sieht auch, dass allein ein Austausch an der Spitze nicht viel ändern wird. Viele der ganz konservativen Hardliner in der Tory-Partei glauben fest daran, dass mit einer neuen Parteiführung, die stärker als May das Pro-Brexit-Lager vertritt, irgendwelche Wunder geschehen werden und die EU an der Verhandlungstisch zurückkehrt. Nicht wenige gehen davon aus, dass diese neue Führung dann einen Brexit-Deal herausverhandelt, der die Hardliner glücklicher stimmt. Das ist aber unwahrscheinlich.
Die EU-Kommission hat sofort erklärt, dass sich für die EU mit dem Rückzug von May von der Parteispitze nichts geändert hat. Es gibt nach wie vor ein Austrittsabkommen zwischen der britischen Regierung und der EU. Und die EU sieht keine Veranlassung, daran was zu ändern.
tagesschau.de: Wer sich in den Gesprächen zwischen London und Brüssel bewegen muss, sind also nach wie vor die Briten?
Rittberger: Genau. Einer der ganz zentralen Streitpunkte des Austrittsabkommens ist nach wie vor der "Backstop" mit Irland, beziehungsweise Nordirland. Die EU hat ja längst gesagt, 'wir lassen unseren Partner, also Irland, nicht im Regen stehen, indem wir der britischen Regierung entgegen kommen'. Wie naiv von einigen britischen Politikern, die sagen, man müsse auf die EU nur ein bisschen Druck ausüben, dann wird sie schon einknicken. Warum sollte die EU gegenüber einem Staat einknicken, der nicht mehr Mitglied sein will, und gleichzeitig einem Mitgliedsstaat vor den Kopf stoßen. Das ist einfach unrealistisch.
Konkurrenz von Farages Brexit-Partei
tagesschau.de: Wäre es denn eine Möglichkeit, eine Neuwahl in Großbritannien durchzuführen?
Das wäre eine der wenigen Möglichkeiten, wie sich an dieser festgefahrenen Situation etwas ändern könnte. Nur welche Tory-Parteiführung hätte jetzt ein Interesse daran, Neuwahlen anzuberaumen? Das wäre ja effektiv ein Eingeständnis, dass es wie bisher nicht funktioniert hat.
Und das wäre eine Art Selbstmordkommando für die Konservativen. Denn dann käme die Brexit-Partei von Nigel Farage, die schon bei den Europa-Wahlen offenbar sehr gut absahnen wird. Bei Neuwahlen in Großbritannien würde die dann sagen: 'Wenn ihr den Brexit wollt, dann wählt doch gleich uns.' Die Tories würden erhebliche Verluste verbuchen und hätten nichts gewonnen. Das bedeutet also: Mit der Entscheidung von May, vom Parteivorsitz zurückzutreten, ist die Wahrscheinlichkeit eines harten Brexits, also eines No-Deal-Brexits, massiv gestiegen.
tagesschau.de: Wird Großbritannien dann mit einem "No Deal" den Austrittstermin am 31. Oktober halten können?
Rittberger: Wenn sich mit einem neuen Premier nichts fundamental ändert und innenpolitisch keine Koalitionen geschmiedet werden können, die das Austrittsabkommen durchbringen, dann wird die EU wohl nicht noch einmal einen Aufschub dieses Datums gewähren. Auszuschließen ist zwar nichts. Aber die Möglichkeit, dass sich irgendjemand in der britischen Politik bewegt, ist mit dem heutigen Tag nicht gestiegen.
Außerdem wird die Zeit auch knapp. Vor Mitte Juli wird nämlich ein neuer Vorsitzender nicht feststehen. Danach stehen im Endeffekt auch nur noch gut acht Wochen zur Verfügung, in denen eine britische Regierung mit Brüssel über das weitere Vorgehen beraten kann. Zusätzlich muss sie auch wieder dem Unterhaus mögliche Beschlüsse vorlegen.
tagesschau.de: Gehen wir also stur geradeaus in den No-Deal-Brexit?
Rittberger: Es sieht momentan ganz so aus. Durch die Stärke der Brexit-Partei setzt sich bei vielen Tories die Meinung durch, jemanden aufs Schild heben zu müssen, der Farage Paroli bieten kann. Sie werden wahrscheinlich einen Wadenbeißer nehmen wollen. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering, dass es am Ende auf Boris Johnson hinausläuft.
Johnson hatte ja schon erklärt, dass er sich von der EU nicht über den Tisch ziehen lassen wolle. Er wolle den Deal neu verhandeln. Nur wird die EU wahrscheinlich sagen: 'Wir haben einen Deal. Wir haben rote Linien. Über die können wir nicht gehen.' Am Ende wird wohl ein Hard-Brexiteer in Großbritannien einen harten Brexit durchfechten müssen. Das ist ein Schreckensszenario.
Das Gespräch führte Günter Marks, tagesschau.de