EU-Chef Juncker im Interview "Populisten muss man sich in den Weg stellen"
Denkt er an Deutschland bei Nacht, dann ist er nicht um den Schlaf gebracht - sagt EU-Kommissionschef Juncker im Interview. Doch angesichts des wachsenden Antisemitismus empfiehlt er Politikern eine klare Haltung.
tagesschau.de: Wir haben in Deutschland die NSU-Mordserie, das Attentat von Halle, den Mord an Walter Lübke in Kassel erlebt. Wir sind ein Land, das Wahlergebnisse verzeichnet, die Regierungsbildungen sehr schwer machen. Wohin steuert Deutschland aus ihrer Sicht?
Jean-Claude Juncker: Denke ich an Deutschland bei Nacht, dann werde ich nicht um die Ruhe gebracht. Weil ich doch einen Grundkonsens in allen Abteilungen der deutschen Gesellschaft sehe, dass man definitiv Abschied genommen hat von den schrecklichen Vorkommnissen der 1930er- und 1940er-Jahre. Deutschland ist - ich sage das als Luxemburger - der beste Nachbar geworden, den wir je hatten. Es ist einfach für die anderen Europäer, sich mit Deutschland zu verständigen.
tagesschau.de: Also kein Grund zur Besorgnis?
Juncker: Ich sehe natürlich mit Unruhe dieses Aufkommen von Antisemitismus, das ist aber kein globales Phänomen in der deutschen Gesellschaft. Ich sehe auch dieses Vorpreschen von stupidem Populismus. Aber das ist noch nicht die allgemeine Gefühlslage der Deutschen. Ich bemängelte oft an der internationalen Berichterstattung über Deutschland, dass man sich sehr konzentriert auf das, was in Deutschland negativ sein könnte, obwohl es das gar nicht ist. Und dass man sich nicht auf die Kraft des europäischen Mainstreams in Deutschland konzentriert.
tagesschau.de: Woher kommt dennoch der Raum für diese Strömungen und Entwicklungen? Was haben Parteien wie die SPD und die CDU falsch gemacht, dass dieser Raum entstanden ist?
Juncker: Ich möchte jetzt keine Beschimpfung der Volksparteien..
tagesschau.de: Nicht beschimpfen - analysieren…
Juncker: Ja, ja aber jede Nuance, die man dem Gebaren von SPD oder CDU entgegenbringt, wird sofort als eine Schelte an diesen Parteien interpretiert.
Jean-Claude Juncker ist seit dem 1. November 2014 Präsident der EU-Kommission. Davor war er lange Jahre Finanzminister und Regierungschef in Luxemburg. Von 2005 bis 2013 führte er die Eurogruppe. Junckers Amtszeit wird nach Verschiebungen voraussichtlich Anfang Dezember 2019 enden.
tagesschau.de: Aber wo liegen die Fehler?
Juncker: Ich glaube, was die klassischen Parteien nicht nur in Deutschland falsch machen, ist, dass sie sich populistische Äußerungen zu eigen machen, regelrecht nachplappern.
"Wählern nicht nachlaufen, dann sieht man sie nur von hinten"
tagesschau.de: Wo ist Ihnen das aufgefallen?
Juncker: Ich bin ja jemand, der die deutschen Parlamentsdebatten sehr intensiv verfolgt, das kostet mich sehr viel Zeit. Aber es muss wohl sein, wenn man in neue deutsche Befindlichkeiten hineintauchen möchte. Man tut so, als ob vieles von dem, was da [vom rechten Rand, Anm. der Redaktion] gesagt wird, eigentlich richtig wäre. Dieses dumpfe Grundgefühl wird auch transportiert von manchen Volksparteien in Deutschland, das halte ich nicht für gut. Populisten muss man sich in den Weg stellen. Wählern darf man nicht nachlaufen, dann sieht man sie nur von hinten. Man muss sich ihnen manchmal auch in den Weg stellen.
tagesschau.de: Wie bewerten Sie die Arbeit der Bundeskanzlerin? Hat Merkel ihre Macht in Europa genutzt?
Juncker: Ich rede ja viel und oft mit der Bundeskanzlerin, tausche mich mit ihr regelmäßig aus. Versetzen Sie sich mal zurück in das Jahr 2015, die Zeit der Flüchtlingswelle. Hat Merkel da europäisch reagiert oder dumpf deutschnational? Sie hat europäisch reagiert. Sie hat die Grenzen nicht geschlossen und wurde dafür ja massiv beschimpft.
tagesschau.de: Welche Chancen hat Merkel verpasst, um die EU langfristig besser aufzustellen?
Juncker: Ich habe einiges an Bedenken vorzubringen, was die Vervollständigung der europäischen Bankenunion anbelangt. Ich habe das sehr gewünscht, dass wir uns in Europa darüber verständigen können, eine europäisch organisierte gemeinsame Einlagensicherung zu machen. Das braucht eine Währungsunion. Das sagen auch alle Währungsunions-Spezialisten. Da hat es in Deutschland sehr viel Zurückhaltung gegeben. Auch im deutschen Kreditgewerbe, mit dem ich mich regelmäßig - in Massenschlägereien - zu dem Thema getroffen habe.
Das Interview führt Markus Preiß, ARD-Studio Brüssel, für das Europamagazin. Es wurde für die schriftliche Form stark gekürzt.