David Ben Gurion

75 Jahre Israel Ein Land kommt nicht zur Ruhe

Stand: 26.04.2023 10:49 Uhr

Seit 75 Jahren gibt es den Staat Israel. Das Land blickt auf eine wechselvolle Geschichte - geprägt von einem unaufhaltsamen Aufstieg, einer immensen Innovationskraft, aber auch von Kriegen und der ständigen Bedrohung.

Es ist der Vorabend des Schabbat am 5. Ijar 5708 nach dem jüdischen Kalender, dem 14. Mai 1948. An diesem Tag läuft das britische Mandat in Palästina aus. David Ben-Gurion, ein kleiner untersetzter Mann mit einem Kranz schlohweißer Haare, verkündet vor dem jüdischen Nationalrat im Stadtmuseum von Tel Aviv die Gründung des Staates Israel.

Als erster Ministerpräsident Israels treibt Ben-Gurion den Aufbau des Landes zu einem modernen und demokratischen Staat im Nahen Osten voran. Der nur 1,52 Meter kleine Mann ist der größte Visionär der neuen Nation, die schon einen Tag nach der Staatsgründung herausgefordert wird, als die arabischen Nachbarstaaten Israel angreifen.

Bis heute haben sechs Nahostkriege und zwei Palästinenseraufstände die Region erschüttert. Beim Sechstagekrieg 1967 kann Israel sein Territorium entscheidend vergrößern. Das Land erobert den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, die Golanhöhen, das Westjordanland und Ostjerusalem. Der damalige israelische Ministerpräsident Levi Eshkol verteidigt den Militäreinsatz:

Auch im Lärm der Kanonen wird unser Wunsch nach Frieden nicht vermindert. Wir erklären zum wiederholten Male, dass wir kein Land angreifen werden - es sei denn, das Land selbst eröffnete den Krieg gegen uns. Jeder, der uns angreifen wird, wird auf unsere volle Selbstverteidigung treffen.

75 Jahre Israel - Feiern und Proteste zum Unabhängigkeitstag

Bernd Niebrügge, ARD Tel Aviv, tagesschau, 26.04.2023 12:00 Uhr

"Es sind genug Blut und Tränen geflossen"

Israel erlangt im Sechstagekrieg die Kontrolle über die historische Altstadt von Jerusalem - und damit den Zugang zum Tempelberg, der für orthodoxe und konservative Juden eine hohe Bedeutung hat. Bis heute hat Israel Ostjerusalem annektiert. Nach Jahren der Gewalt kommt es Anfang der 1990er-Jahre zu ersten Geheimverhandlungen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO. Beide Seiten erkennen sich an. Eine Lösung im jahrzehntelangen Nahost-Konflikt scheint zum Greifen nah.

Israels Ministerpräsident Jitzchak Rabin und Palästinenserführer Jassir Arafat schütteln sich 1993 im Rosengarten des Weißen Hauses die Hände. Ein historischer Handschlag zweier Erzfeinde, die einen neuen Weg einschlagen wollen. "Wir haben gegen die Palästinenser gekämpft", sagt Rabin damals. "Jetzt sagen wir zu ihnen, klar und deutlich: Es sind genug Blut und Tränen geflossen."

Yitzhak Rabin, Bill Clinton und Yasser Arafat

Ein Moment für die Geschichtsbücher: Unter den Augen des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton reichen sich Jitzchak Rabin und Jassir Arafat die Hand.

Arafat als Feind

Aber schon bald bestimmen wieder Misstrauen und Gewalt den Alltag in der Region. Anschläge auf beiden Seiten beflügeln die Gegner der Vereinbarungen. Die Ermordung Rabins durch einen israelischen Ultrarechten im Jahr 1995 markiert den Beginn des Scheiterns. Im Jahr 2000 wird Israel durch die zweite Intifada herausgefordert.

Der damalige israelische Oppositionsführers Ariel Scharon besucht den Tempelberg. Aus Sicht der Palästinenser ist der Besuch Scharons eine Provokation. Proteste und Unruhen schlagen schnell in Gewalt um - und die Gewalt eskaliert.

Über 1000 Israelis werden während der Intifada getötet, darunter mehr als 750 Zivilisten. Auf palästinensischer Seite gibt es 3300 Tote, darunter viele Kämpfer, aber auch Zivilisten. Auf Befehl von Scharon, inzwischen Ministerpräsident Israels, rücken nach einem verheerenden Terror-Anschlag in Netanya 20.000 israelische Soldaten tief in das Westjordanland vor.

Von der Agrargesellschaft zur Startup-Nation

"Israel wird das palästinensische Terrornetz und all seine Bestandteile bezwingen", so Scharon damals. "Arafat, der eine terroristische Koalition gegen Israel bildet, ist ein Feind und wird in dieser Phase isoliert." Seither ist der Friedensprozess völlig zum Stillstand gekommen. Israelische Siedlungen rücken völkerrechtswidrig immer tiefer in das besetzte Westjordanland vor. Die Serie von Attentaten palästinensischer Terroristen reißt nicht ab.

Trotz allem entwickelt sich Israel in all den Jahren von einer Agrargesellschaft zu einer innovativen und hochmodernen Startup-Nation - und ist die einzige Demokratie im Nahen Osten. Eine Demokratie, die viele im Land zunehmend gefährdet sehen. Innenpolitisch ist Israel polarisiert wie noch nie in seiner 75-jährigen Geschichte.

"Schwerste Krise seit der Staatsgründung"

Die rechts-religiöse Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanyahu spaltet seit ihrem Amtsantritt die Nation immer stärker. Jede Woche gehen im ganzen Land Zehntausende auf die Straßen aus Protest gegen die Regierungspolitik. Es ist eine tiefe Krise, die Israel zu seinem 75. Geburtstag durchlebt.

Eine Krise, die nicht nur Staatspräsident Izchak Herzog schlaflose Nächte bereitet. "Ich schlafe nachts nicht immer gut", so Herzog in einem Interview. "Diese Zeit ist sehr besorgniserregend, denn wir befinden uns der schwersten Krise seit der Staatsgründung." Aus einer solchen Krise könne man aber auch gestärkt herauskommen. "Und daran glaube ich mit meinem ganzen Herzen."

 

Julio Segador, ARD Tel Aviv, tagesschau, 26.04.2023 11:42 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 25. April 2023 um 22:15 Uhr.