Eine israelische Fahne steht neben einem von der Hamas zerstörten Haus im Kibbuz Be'eri.
reportage

Israel nach Hamas-Angriff Flüchtling im eigenen Land

Stand: 25.10.2023 18:32 Uhr

Dafna Gerstner hat den Angriff der Hamas auf den Kibbuz Be'eri überlebt - aber sie hat ihren Bruder und den Ort ihrer Kindheit verloren. Nun lebt sie dort, wo andere sonst Urlaub machen: in einem Hotel.

Von Sophie von der Tann, ARD Tel Aviv und Kilian Neuwert, ARD-Studio Tel Aviv

Kinderstimmen hallen durch eine Parkanlage. Ein Mädchen spielt Basketball. Ein anderes hat sich das grüne Barett einer Soldatin aufgesetzt, die auf die Kinder aufpasst und mit ihnen spielt, in olivgrüner Uniform und Lederstiefeln. Das Sturmgewehr umgehängt, steht sie dort, wo sonst Badegäste sitzen - vor einem Hotelkomplex in En Bokek am Toten Meer.

Viele Stockwerke ist er hoch, direkt am Strand. Das Hotel ist nun Heimat auf Zeit für etwa 400 Menschen.

"Es ist einfach nur eine Kulisse", sagt Dafna Gerstner. "Das ist einfach nur ein Ort, wo wir in Sicherheit schlafen und essen können. Das ist nicht das Zuhause. Wir werden auch kein Zuhause mehr haben. Wir kommen auch nicht mehr in den Kibbuz Be'eri. Das existiert nicht mehr in der Form."

Reportage über Überlebende des Hamas-Angriffs

Sophie von der Tann, ARD Tel Aviv, tagesthemen, 24.10.2023 22:15 Uhr

"Ununterbrochen Schüsse, Schreie, Raketen"

Be'eri - der Kibbuz, in dem Dafna Gerstner aufgewachsen ist - liegt unmittelbar an der Grenze zum Gazastreifen. Am 7. Oktober wurde er überrannt von Terroristen der Hamas. "Um halb sieben haben wir einen Raketenangriff gehört", erzählt Gerstner. "Extrem stark. Das habe ich noch nie gehört. Da bin ich aufgewacht, habe meinen Bruder geweckt. Wir sind direkt in den Schutzraum gegangen. Wir dachten, das ist eine normale Attacke, das gibt es manchmal in der Region; das geht dann aber relativ schnell vorbei."

Doch dieses Mal nahm es kein Ende. 19 Stunden lang harrten Dafna Gerstner und ihr deutscher Ehemann im Bunker des Hauses ihres Bruders aus, der nach draußen ging. "Wir haben die Tür zugemacht und einfach ununterbrochen Schüsse gehört, Schreie gehört, Raketen gehört", sagt sie. "Wir konnten auch nicht raus. Wir waren einfach komplett alleine dort."

Neun Freiwillige gegen rund 300 Angreifer

Dafna Gerstner ist 39 Jahre alt, dunkelbraune, lockige Haare, runde Brille. Sie trägt ein weißes T-Shirt, eine schwarze Hose. Seit zwölf Jahren lebt sie in München, für einen zweiwöchigen Urlaub kam sie nach Hause nach Be'eri - nicht ahnend, dass sie ihren Bruder am 7. Oktober zum letzten Mal sehen sollte.

Er war Teil der bewaffneten Sicherheitswacht des Kibbuz; ein Freiwilliger, der mit neun anderen den Kampf gegen etwa 300 Terroristen aufnahm, während Dafna und ihr Mann im Bunker waren. Die Armee kam erst Stunden später.

Dafna Gerstner, die den Angriff der Terrormiliz Hamas auf das Kibbuz Be'eri am Toten Meer überlebt hat

Seit zwölf Jahren lebt Dafna Gerstner in München - eigentlich war sie nur auf Familienbesuch in Israel.

"Die haben allein gekämpft", sagt sie. "Ohne Hilfe. Und ihr Leben gegeben, damit wir leben können. Und das Einzige, was mir Kraft gibt: Dass er nicht umsonst gestorben ist. Dass er alles für's Kibbuz Be'eri gegeben hat, für uns am Ende."

Ihr Bruder und sie seien sehr eng miteinander gewesen, erzählt sie. Er sei auch oft in Deutschland, in München gewesen. "Grade im Mai waren wir zusammen am Bodensee. Er war auf einem Konzert in München. Ich kann das noch nicht wahrnehmen."

Jeden Tag fünf Beerdigungen

Der Tag, an dem wir Dafna Gerstner treffen, ist der Tag, an dem ihr Bruder beerdigt werden soll. Fünf Menschen tragen die Überlebenden aus Be'eri jeden Tag zu Grabe. Etwa 100 der einst mehr als 1.000 Bewohner des Kibbuz starben bei dem Massaker der Hamas.

Im Foyer des Hotels am Toten Meer, wo die Überlebenden nun untergebracht sind, brennen Kerzen; Kränze liegen bereit, einer für Dafnas Bruder. Sie alle hier teilen dasselbe Schicksal. Sie sind entwurzelt, Flüchtlinge im eigenen Land.

"Manche haben keinen Heimatort mehr"

Der Bürgermeister der Kommune, Nir Wanger, weiß um die Lage der Menschen. Zumal es in En Bokek nichts anderes gibt als Hotelburgen. Wanger führt an einen Ort, an dem sich vor dem Krieg noch Urlauber gesonnt haben. Jetzt vermisst ein Trupp Bauingenieure das Gelände.

"Das Problem ist ja, wenn Du hierher kommst, um Ferien in einem Hotel zu machen - für einen oder vielleicht drei Tage -, dann hast Du eine super Zeit", sagt er. "Aber wenn Du hierbleiben musst, dann wird das alles zu einer Art Käfig. Wir müssen also wieder einen Alltag hinbekommen. Zuerst für die Kinder. Wir bauen also das, was sie zu Hause auch haben: eine Schule, Aufenthaltsmöglichkeiten, einen Spielplatz und alles, was sie noch brauchen."

Hotel, in dem Überlebende des Kibbuz Be'eri nach Angriff der Terrormiliz Hamas untergebracht sind

"Wenn Du hierbleiben musst, wird das zu einer Art Käfig": eines der Hotels, in dem die Überlebenden nun untergebracht sind.

300 bis 400 Kinder sollen hier bald unterrichtet werden. Sie leben in den Hotels, wurden aus verschiedenen Kibbuzim in der Nähe des Gazastreifens umgesiedelt. Bürgermeister Wanger wirkt entschlossen; aus Sicherheitsgründen hat er sein Sturmgewehr dabei, inklusive Reservemagazin. "Es ist unsere Pflicht, für die Überlebenden dieses furchtbaren Angriffs zu sorgen, so lange, bis sie nach Hause können", sagt er. "Allerdings haben manche gar keinen Heimatort mehr."

Vertrauen in Regierung verloren

Etwa die Menschen aus Be'eri. Menschen wie Gerstners Vater, dessen Haus die Hamas-Terroristen am 7. Oktober in Brand steckten. Wegen der Geschehnisse haben Dafna Gerstner und viele andere das Vertrauen in Armee und Regierung verloren. Niemand hätte sie beschützt.

Die Zukunft? Ungewiss, sagt die 39-Jährige. An Frieden glaubt sie nicht. Nicht mehr. Nicht, nachdem ihr Bruder, Freunde, Bekannte und Nachbarn umgebracht wurden. "Menschen, die dachten, wir werden Frieden haben mit den Leuten in Gaza", sagt sie - "diese Leute wurden entführt. Diese Leute sitzen heute in Gaza oder wurden ermordet. Wir können das auch nicht fassen. Wir sind alle unter Schock."