Höchstes UN-Gericht IGH fordert sofortigen Stopp von Rafah-Offensive
Israel muss seine Offensive in Rafah im südlichen Gazastreifen dem Internationalen Gerichtshof zufolge sofort beenden. Die humanitäre Lage in der Stadt sei "katastrophal". Damit dürfte der weltweite Druck auf Israel steigen.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat Israel aufgefordert, seine militärische Offensive in der Stadt Rafah im Gazastreifen sofort zu beenden. Damit gab der Gerichtshof einem Eilantrag Südafrikas teilweise statt.
Die humanitäre Lage im Gazastreifen habe sich weiter verschlechtert, erklärte der Präsident des Gerichts, Nawaf Salam, zur Begründung. In Rafah sei sie inzwischen "katastrophal". Die Militäroffensive könne zu Lebensbedingungen beitragen, die "zur vollständigen oder teilweisen Zerstörung" der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen führen.
IGH: Risiko eines Völkermordes plausibel
Das Gericht stellte fest, dass Israel nicht ausreichend nachweisen konnte, dass die Sicherheit der Bevölkerung während der Evakuierung Rafahs gewährleistet war und dass notwendige Mittel, wie Wasser, Nahrung, Medizin und Schutzräumen für die 800.000 betroffenen Palästinenser zur Verfügung gestellt wurden.
Das Risiko, dass im Gazastreifen ein Völkermord begangen werde, sei "plausibel", so der Richter. Als Reaktion auf den Richterspruch verlangt das Gericht bis zum 24. Juni einen schriftlichen Bericht von Israel.
Israel sieht sich in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht
Das Land will dem Urteil allerdings nicht folgen. "Israel handelt auf der Grundlage seines Rechts, sein Territorium und seine Bürger zu verteidigen, im Einklang mit seinen moralischen Werten und in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht", teilte das Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu am Abend mit.
Die Völkermord-Vorwürfe Südafrikas wies Netanyahu erneut zurück. Diese Anschuldigungen seien "falsch, empörend und moralisch verwerflich". Die Einsätze in Rafah würden nicht derart durchgeführt, dass der Zivilbevölkerung physische Zerstörung im Ganzen oder in Teilen drohen könnte. Oppositionsführer Benny Gantz, Minister im Kriegskabinett, kündigte ebenfalls bereits an, Israel werde seinen "gerechten und notwendigen" Krieg gegen die Terroristen der Hamas und für die Rückkehr der Geiseln fortsetzen.
UN-Generalsekretär: Urteil ist bindend
UN-Generalsekretär António Guterres nimmt Israel hingegen in die Pflicht. "Der Generalsekretär erinnert daran, dass Entscheidungen des Gerichtshofs gemäß der Charta und der Satzung des Gerichtshofs bindend sind, und vertraut darauf, dass die Parteien der Anordnung des Gerichtshofs ordnungsgemäß nachkommen werden", teilten die Vereinten Nationen mit.
Auch wenn die Entscheidungen des Weltgerichts bindend sind: Die UN-Richter besitzen keine Machtmittel, um einen Staat zur Umsetzung zu zwingen. Russland etwa ignoriert bis heute eine Entscheidung aus dem Jahr 2022, seinen Angriff auf das Nachbarland Ukraine zu stoppen. Die UN-Richter können aber den UN-Sicherheitsrat aufrufen, in der Sache tätig zu werden.
Borrell: EU muss sich nun entscheiden
Die EU müsse sich nun entscheiden, sagte der Chef der EU-Außenpolitik, Josep Borrell. "Wir werden uns entscheiden müssen zwischen unserer Unterstützung für internationale Institutionen der Rechtsstaatlichkeit oder unserer Unterstützung für Israel."
Die militant-islamistische Hamas begrüßte die Entscheidung, nannte sie jedoch nicht ausreichend. Israel müsse die gesamte Offensive beenden. In einer Mitteilung forderte sie die internationale Gemeinschaft und die UN auf, Druck auf Israel auszuüben. Ein Mitglied des Hamas-Politbüros betonte, ohne internationalen Druck sei die Entscheidung des Gerichts ohne Wirkung.
Ein Sprecher der Palästinenserbehörde im Westjordanland sagte, das Urteil stehe für einen "internationalen Konsens", dass der Krieg im Gazastreifen beendet werden müsse.
Südafrika: "Anordnung ist bahnbrechend"
Südafrika nannte die Anordnung "bahnbrechend". "Denn es ist das erste Mal, dass Israel ausdrücklich aufgefordert wird, seine Militäraktionen in irgendeinem Gebiet des Gazastreifens einzustellen", sagte Zane Dangor, Generaldirektor der Abteilung für internationale Beziehungen und Zusammenarbeit. Dies sei de facto ein Aufruf zu einem Waffenstillstand. Das südafrikanische Außenministerium kündigte an, sich nun an den UN-Sicherheitsrat zu wenden.
Südafrika hatte das Gericht angerufen und den sofortigen Rückzug des israelischen Militärs aus dem gesamten Gazastreifen gefordert - einschließlich der Truppen in Rafah. Das Land hat bereits mehrfach im Eilverfahren Maßnahmen gegen Israel gefordert. Dies geschieht im Rahmen der Völkermord-Klage, die das Land vor dem Gerichtshof im Dezember eingereicht hatte. In zwei Entscheidungen hatten die UN-Richter Israel bereits verpflichtet, alles zu tun, um einen Völkermord zu verhindern und humanitäre Hilfe zuzulassen.
Israel weist Vorwürfe zurück
Israel hatte Vorwürfe des Völkermords im Gazastreifen vor dem Internationalen Gerichtshof als haltlos zurückgewiesen. Das Land beruft sich auf sein Recht auf Selbstverteidigung, nachdem Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober den Süden Israels überfallen, etwa 1.200 Menschen getötet und mehr als 250 Menschen in den Gazastreifen entführt hatten.
Seit Anfang Mai führt Israels Armee eigenen Angaben zufolge "gezielte" Einsätze in Rafah aus, wo sie die letzten verbleibenden Hamas-Bataillone verortet hat und zerschlagen will. Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, wurden bei den israelischen Angriffen bislang insgesamt mehr als 35.400 Menschen im Gazastreifen getötet.
Mehr Kritik und Haftbefehle
Die Kritik an Israels Kriegsführung nahm zuletzt immer mehr zu. Selbst der engste Verbündete USA warnte Regierungschef Netanyahu vor einer großangelegten Offensive in der Stadt Rafah, in der Hunderttausende Binnenflüchtlinge vor den Kämpfen in anderen Teilen des Gazastreifens Schutz gesucht haben. Rafah ist nach fast acht Monaten Krieg die letzte halbwegs intakte Stadt im Gazastreifen.
Der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) beantragte Haftbefehle gegen Netanyahu und seinen Verteidigungsminister Yoav Gallant sowie drei Anführer der Terrororganisation Hamas wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der IStGH sitzt wie der IGH in Den Haag.
Mit Informationen von Ludger Kazmierczak, WDR