Ermordeter Lehrer in Frankreich "Ein Ereignis, das jeden geprägt hat"
Ein Jahr ist es her, dass der Lehrer Samuel Paty in Frankreich ermordet wurde - nachdem er im Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte. Heute wird im ganzen Land an Paty erinnert.
Es ist eine trügerische Stille in dem kleinen Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine. Die Jugendlichen sind noch in der Schule, als eine Spaziergängerin die Stelle zeigt, wo der Geschichtslehrer Samuel Paty ermordet wurde. Keine 400 Meter entfernt.
Rosa Plastikblumen - in den Holzzaun gesteckt - und ein ausgedruckter Zettel mit der Solidaritätsbekundung "Je suis Prof" - Ich bin Lehrer - erinnern an die grausame Tat vom 16. Oktober 2020. Für die Bewohner der Gemeinde war es ein Schock, erzählt die Spaziergängerin. "Viele fragen sich: Warum hat er darüber geredet? Er wusste, dass es gefährlich ist, sehr sogar."
Sie passe seitdem auf, was sie auf der Straße sage.
Lehrer: Unterrichten nicht mehr wie vor dem Attentat
An der Schule von Samuel Paty will niemand mit der Presse reden. Nach Schulschluss bitten zwei Lehrer die Journalisten, keine Interviews zu machen und die Jugendlichen in Ruhe nach Hause gehen zu lassen. Die Kollegen von Samuel Paty haben ihr Schweigen nur einmal gebrochen, als sie vor Kurzem mit dem Radiosender France Inter redeten. Sie unterrichten nicht mehr so wie vor dem Attentat, sagt eine Lehrerin. Und ein Lehrer berichtet:
Ich habe mir gesagt: Manche Themen werden wir vermeiden, weil es kontrovers sein könnte. Wir wissen nicht, was die Kinder zu Hause erzählen. Es sind natürlich nicht alle so. Aber ja, ich passe mehr darauf auf, was ich sage.
Denn es war eine Schülerin, die diese Spirale der Gewalt in Gang gesetzt hat. Sie soll Lügen über die Unterrichtsstunde von Samuel Paty verbreitet haben. Ihr Vater hat sich dann im Internet über ihn beschwert.
Muslime zunehmend unter Generalverdacht
Für die Lehrer, aber auch die Schülerinnen und Schüler, sei das schwer zu verarbeiten gewesen, erzählt eine Mutter vor der Schule. Sie ist Muslimin und will nicht ins Mikro sprechen. Ihre Tochter sei in der Klasse von Samuel Paty gewesen und sie mochte ihren Lehrer. Nach der Ermordung habe ihre Tochter sie gefragt: Ist das der Islam? Natürlich nicht, sagt die Mutter. Doch Muslime stünden in Frankreich zunehmend unter Generalverdacht, erzählt sie.
"Für uns ist das eine schreckliche Situation", sagt der Rektor der Großen Moschee von Paris, Chems-Eddine Hafiz, im Fernsehinterview. "Als französische Staatsbürger muslimischen Glaubens erleben wir eine doppelte Bestrafung: Es fällt uns sehr schwer zu begreifen, dass ein Mann, ein Barbar, einen Menschen, einen Lehrer, im Namen unseres heiligen Buches enthauptet hat."
Gedenkmarsch durch Conflans-Sainte-Honorine
Hafiz und 29 weitere Imame haben am Freitag an der Hommage an Samuel Paty vor der Schule teilgenommen, um ihre Solidarität zu bekunden. Schulen in ganz Frankreich haben an den Lehrer erinnert - mit Schweigeminuten, Andachten sowie speziell gestalteten Unterrichtsstunden. Bäume wurden gepflanzt. Das habe die Familie Paty sehr gerührt, sagt deren Anwältin Virginie Leroy: "Jede Hommage ist ein Zeichen gegen den radikalen Islamismus. Es geht darum, die Meinungsfreiheit zu zelebrieren. So muss es sein."
Vom Platz der Freiheit aus führt am Samstag ein Gedenkmarsch durch Conflans-Sainte-Honorine. Ein Pflichttermin sei das, erzählt eine Anwohnerin. "Das ist ein Ereignis, das jeden geprägt hat. Im Namen der Meinungsfreiheit und des Engagements dieses Lehrers. Dafür darf man niemanden töten. Das ist unvorstellbar."