Zu Israels Vorwurf der Mitwisserschaft "Journalisten sind verpflichtet, Verbrechen zu dokumentieren"
Israels Vorwürfe an Journalisten, sie hätten vorab von dem Hamas-Überfall gewusst, sind fragwürdig, sagt ARD-Korrespondent Jan-Christoph Kitzler. Journalisten würden nicht zu Mittätern, wenn sie Verbrechen dokumentierten. Vielmehr seien sie dazu verpflichtet.
tagesschau.de: Aus Israel wird der Vorwurf gegen Reporter und Nachrichtenagenturen erhoben, vorab von den Plänen der Hamas gewusst zu haben, Israel am 7. Oktober anzugreifen. Welche Hinweise gibt es bislang dafür?
Jan-Christoph Kitzler: Keine. Der Vorwurf basiert auf der Tatsache, dass Reporter früh am Ort des Geschehens waren. Reuters hat angegeben, dass der für die Agentur arbeitende Fotograf ein Bild, das unter anderem nun kritisiert wird, 45 Minuten nach Beginn des Überfalls aufgenommen habe. Diese Angabe kann man über die Metadaten eines Fotos überprüfen. Wäre der Kollege nicht schnell vor Ort gewesen, hätte er seinen Job nicht richtig gemacht. Daraus zu schließen, Journalisten hätten vorab von dem Terrorangriff der Hamas gewusst, ist äußerst fragwürdig.
tagesschau.de: Ein weiterer Vorwurf lautet, einige Reporter seien durch die Dokumentation der schrecklichen Taten zu Mittätern geworden. Wie ist das belegt?
Kitzler: Es gibt meines Wissens keine Belege, dass sich Reporter an den Taten beteiligt hätten. Dass sie sie dokumentiert haben, ist hingegen belegt. Journalisten werden nicht zu Mittätern, wenn sie schreckliche Verbrechen dokumentieren, im Gegenteil: Sie sind dazu verpflichtet. Dieser Vorwurf offenbart ein schräges Verständnis von der Arbeit von Journalistinnen und Journalisten.
tagesschau.de: Die Vorwürfe kommen unter anderem von der NGO "Honest Reporting" - was weiß man über sie?
Kitzler: "Honest Reporting" sagt über sich selbst, man untersuche Berichterstattung über Israel auf Ungenauigkeiten und Parteilichkeit hin und decke diese auf. Dabei tritt die Organisation sehr aggressiv auf und stellt immer wieder auch große Medienunternehmen an den Pranger. Ziel ist es, die Berichterstattung über Israel und den Nahen Osten auf der Basis von "echten Fakten" in eine bestimmte pro-israelische Richtung zu beeinflussen. Sehr aggressiv ist die Organisation auch im Einwerben von Spenden, die die wichtigste Einnahmequelle sein dürften.
Wann ist die Grenze überschritten?
tagesschau.de: Die Vorwürfe richten sich unter anderem gegen vier Fotografen, von denen sich einer vor einem brennenden israelischen Panzer fotografiert hat. Ist das nicht eine Grenzüberschreitung?
Kitzler: Haben wir diese Frage beispielsweise im Krieg gegen die Ukraine auch gestellt? Ein Video vor einem brennenden Panzer ist keine Grenzüberschreitung. Es dokumentiert, dass ein Reporter vor Ort ist.
Ich habe aber eine Grenzüberschreitung gesehen, nämlich ein Foto, das einen der Reporter neben Yayha Sinwar, einem der Chefs der Terrororganisation Hamas, zeigt. Sinwar legt ihm seinen Arm um die Schulter und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Diese Form der Nähe darf es für einen Journalisten nicht geben, zumal wenn es sich um einen der meistgesuchten Terroristen derzeit handelt. Unter anderem CNN hat deswegen auch mitgeteilt, man habe sich von dem freien Mitarbeiter getrennt.
tagesschau.de: Die Nachrichtenagenturen verweisen darauf, dass es sich bei den Kollegen, die von den Terrorangriffen berichtet hätten, um Freelancer gehandelt habe, also um selbstständige Journalisten, im Branchenjargon "Freie" genannt. Was bedeutet das in der redaktionellen Zusammenarbeit?
Kitzler: Die Abhängigkeit zwischen dem Reporter und der Nachrichtenagentur ist weniger eng als bei festangestellten Kollegen. In der Regel haben Freelancer nicht nur einen, sondern mehrere Auftraggeber. Trotzdem muss eine Nachrichtenagentur auch bei Freelancern das Material überprüfen, das sie von freien Mitarbeitern bekommen. Und meines Wissens geschieht das auch sehr gewissenhaft.
"Journalisten werden zur Zielscheibe"
tagesschau.de: Der Leiter des israelischen Presseamtes nennt den Verweis auf die selbstständige Tätigkeit der kritisierten Journalisten eine "Ausrede". Ist das ein stichhaltiger Vorwurf?
Kitzler: Das macht nach meinem Verständnis keinen Unterschied. Er ist aber für alle Journalisten, die in diesem Krieg arbeiten, sehr gefährlich. Benny Gantz, immerhin Minister im israelischen Kriegskabinett, hat gesagt: "Wenn es Journalisten gegeben hat, die von dem Massaker wussten, es fotografierten und untätig daneben standen, als Kinder abgeschlachtet wurden, unterscheiden sie sich nicht von Terroristen und sollten auch als solche behandelt werden."
Der Vorwurf, dass Journalisten vorab vom Terrorangriff der Hamas wussten, ist nicht belegt. Aber mit Aussagen wie diesen werden Journalisten zur Zielscheibe. Das kann als ein offener Aufruf zur Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten verstanden werden. Im Gazastreifen sind in diesem Krieg auch schon mehr als 30 Reporter ums Leben gekommen.
tagesschau.de: Sie waren als Reporter selbst im Gazastreifen. Was bedeutet es für Journalisten, dass die Region von der Hamas kontrolliert, dass die Verwaltung von ihr getragen wird?
Kitzler: Wer ein Gebiet betritt, das von einer Diktatur oder einem Terrorregime kontrolliert wird, unterwirft sich zu einem gewissen Grad den dort herrschenden Spielregeln, schon bei der Einreise, egal ob als Journalist oder nicht. Wenn ich in den Gazastreifen eingereist bin, wusste die Terrororganisation Hamas, mit wem ich unterwegs war, über welche Themen ich berichten wollte und wo ich mich aufhalte.
Das hat nichts mit der Pressefreiheit zu tun, die es zum Beispiel in einer Demokratie wie Israel gibt. Dennoch war es für mich keine Alternative, aus dem Gazastreifen nicht zu berichten. Dort leben mehr als 2,3 Millionen Menschen, und von denen leiden viele unter der Hamas, sehen das Regime kritisch. Ziel meiner Berichterstattung von dort war es, ein Bild vom Leben der Menschen im Gazastreifen zu vermitteln, von den speziellen, sehr schweren Bedingungen dort. Das Ganze auch sehr kritisch.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de