Politik in der Flüchtlingskrise Das Problem mit der Menschlichkeit
Deutschland und Österreich haben Tausenden Flüchtlingen die Einreise erlaubt. Doch dieser Akt der Menschlichkeit lässt sich nur schwer mit bestehenden EU-Regeln vereinen. Die Länder stehen daher vor der Frage: Wie weit gehen sie für die Sicherheit der Flüchtlinge?
"Wir haben jetzt eine akute Notlage bereinigt": Mit diesen Worten hat der österreichische Regierungssprecher Georg Streiter am Mittag die Einreiseerlaubnis für Tausende Flüchtlinge aus Ungarn erklärt. Das Land erwarte aber von den Ungarn, "dass sie ihren europäischen Verpflichtungen nachkommen, insbesondere auch den Verpflichtungen des Dubliner Abkommens". Auch Außenminister Sebastian Kurz meldete sich zu Wort und betonte, "dass das Dublin-System natürlich nach wie vor gilt".
Die Nachricht, die mit diesen Äußerungen transportiert werden soll: Die außerplanmäßige Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn soll als eine einmalige Hilfsaktion verstanden werden, die keinesfalls zum Regelfall werden soll.
Notlage noch längst nicht beendet
Doch mit Blick auf die Flüchtlingskrise innerhalb der EU dürfte allen Verantwortlichen klar sein, dass die Notlage noch längst nicht bereinigt ist - im Gegenteil: In Budapest sitzen nach wie vor Hunderte bis Tausende Flüchtlinge fest, in Griechenland kamen alleine in der vergangenen Woche nach UN-Angaben 23.000 Flüchtlinge an, in der türkischen Millionenstadt Izmir warten Zehntausende auf ihre Weiterreise nach Europa.
Und das Elend und die Verzweiflung dieser Menschen wird mit jedem Tag deutlicher: Alleine in diesem Jahr sind schon mehr als 2000 Hilfesuchende auf ihrer Flucht im Mittelmeer ertrunken, auf den griechischen Inseln Kos und Lesbos herrschen katastrophale Zustände, in Ungarn wird hart gegen Flüchtlinge durchgegriffen.
EU-Regelungen verhindern unbürokratische Hilfe
Bei der Hilfe für diese Menschen stehen den EU-Staaten ihre eigenen Regelungen im Weg. Wird den Hilfesuchenden unproblematisch und entsprechend ihrer Not geholfen, müssen dafür allzu oft die bestehenden Richtlinien und Gesetze der EU umgangen werden. Im Zentrum des Problems steht das sogenannte Dublin-Abkommen. Demnach müssen Flüchtlinge ihre Asylanträge in dem EU-Land stellen, das sie auf ihrer Flucht als erstes betreten haben. Es ist wegen dieser Richtlinie nicht möglich, Flüchtlinge unbürokratisch innerhalb der EU zu verteilen.
Diese Situation stellt die EU-Staaten vor eine richtungsweisende Frage: Wie lange können und dürfen sie dem Elend der Flüchtlinge noch zusehen? Welche Bedeutung messen sie den Regeln der EU bei, welche dem Wohl der Flüchtlinge? Die aktuelle Entscheidung von Deutschland und Österreich, die Flüchtlinge aus Ungarn aus ihrer verzweifelten Lage zu befreien, kann als Entscheidung für die Menschlichkeit gewertet werden. So sagte auch der österreichische Außenminister Kurz, die erteilte Einreiseerlaubnis für die ungarischen Flüchtlinge sei eine "sehr menschliche Lösung". Zugleich betonte er aber, so könne es nicht weitergehen.
Bei einem Treffen der EU-Außenminister in Brüssel forderte Kurz eine wirksame Sicherung der EU-Außengrenzen - also eine Strategie zum Fernhalten der Flüchtlinge. In eine ähnliche Kerbe schlägt ein aktueller Beschluss der EU, künftig mit sieben Kriegsschiffen, einem Flugzeugträger, U-Booten, Drohnen und Flugzeugen den Schleppern das Mittelmeer zu bewachen und Schlepperboote zu zerstören. Andere Lösungsvorschläge befassen sich mit sicheren Fluchtwegen nach Europa, um gefährliche Schleuser-Fahrten zu künftig zu vermeiden.
Merkel will "gesamtes System neu gestalten"
Für eine langfristige Lösung der Flüchtlingskrise bedarf es aber größerer Veränderungen innerhalb der EU. Das hat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel erkannt. Sie fordert eine grundlegende Reform der Flüchtlingspolitik in der EU. "Das gesamte System muss neu gestaltet werden", sagte Merkel den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. "Zurzeit funktioniert die europäische Asylpolitik nicht", führte sie aus.
Die Aufgaben und Belastungen müssten gerecht verteilt werden, damit nicht weiterhin einige wenige Länder den größten Teil der Flüchtlinge aufnehmen, forderte die Bundeskanzlerin. "Ganz Europa ist entsprechend der Wirtschaftskraft und Größe des jeweiligen Landes gefordert." Merkel kündigte an, mit ihren europäischen Amtskollegen weiter intensiv über eine "faire Lastenverteilung" zu sprechen.
Der Vorschlag von Bundeskanzlerin Merkel stößt nicht überall auf Zustimmung. So sind Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen gegen ein neues Quotensystem. Die EU-Solidaritätsmaßnahmen sollten freiwillig bleiben, hatten die Regierungschefs der vier osteuropäischen Länder am Freitag gemeinsam erklärt. Ungarn schottet sich zudem mit einem riesigen Grenzzaun und verschärften Gesetzen für Einwanderer immer weiter ab. Erst vor wenigen Tagen hatte der ungarische Regierungschef Viktor Orban erklärt, die Flüchtlingskrise sei kein europäisches, sondern ein "deutsches Problem".
In diesen dramatischen Tagen und Wochen müssen wir Europäer uns an die Geschichte unseres Kontinents erinnern. Wir wissen, was das heißt: Krieg, Konflikte und Zustände, die einen dazu zwingen, zu fliehen." (EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini am Samstag in Luxemburg)
Sogwirkung durch Hilfe für die Flüchtlinge
Solange Länder wie Ungarn an ihrer Haltung festhalten, gilt eine gemeinsame Lösung der Flüchtlingskrise als unwahrscheinlich. Außerdem zieht diese Abwehrhaltung ein weiteres Problem nach sich: Die helfenden Länder - wie im aktuellen Fall Deutschland und Österreich - werden zunehmend in die Pflicht genommen.
Denn setzen sie sich zugunsten der Menschlichkeit kurzzeitig über bestehende Regelungen hinweg, könnte das eine Sogwirkung nach sich ziehen. Schon jetzt ist es so, dass ein sehr großer Teil der Flüchtlinge, die über Ungarn in die EU reisen, Deutschland als Ziel hat.
Inzwischen wird daher innerhalb der EU schon offen über die Sanktionierung von Ländern gesprochen, die sich gegen die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen wehren. Wer bei der Lastenteilung nicht mitmache, müsse letztlich mit Konsequenzen rechnen, sagte EU-Kommissar Günther Oettinger vor zwei Tagen.