30 Jahre im Europaparlament "Mit vier Abstimmungen den ganzen Tag blockiert"
1979 hatten Europaabgeordnete keine eigenen Büros und wenig zu entscheiden. Nach 30 Jahren in Straßburg erinnern sich die deutschen Politiker Hänsch und Friedrich im Interview mit tagesschau.de an chaotische Anfänge, die Resolutionitis ihrer Kollegen und Kämpfe um mehr Macht.
tagesschau.de: Als Sie 1979 nach der ersten Direktwahl ins Europaparlament einzogen, fehlte es dem Parlament nicht nur an Kompetenzen. Wie lange mussten Sie auf ein Telefon und ein Büro warten?
Ingo Friedrich: Wir hatten zunächst gar kein Büro, dann eines zu sechst und dann ein Büro in Brüssel zu dritt. Erst mit dem Neubau des Gebäudes in Straßburg bekam jeder ein eigenes Büro. Ich schätze, es hat fünf Jahre gedauert, bis jeder sein eigenes Büro hatte.
Ingo Friedrich zog bei der ersten Direktwahl 1979 für die CSU ins Europaparlament ein. Zwischen 1999 und 2007 war er Vizepräsident des Parlaments. Seit 1993 ist er stellvertretender Parteichef der CSU. Bei der Listenaufstellung für die Europawahl 2009 unterlag er in der Abstimmung um Platz fünf und entschied danach, nicht erneut für das Europaparlament zu kandidieren.
Klaus Hänsch sitzt seit 1979 für die SPD im Europaparlament. Er war zehn Jahre stellvertretender Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion und von 1994 bis 1997 Präsident des Parlaments. Als Präsidiumsmitglied des Verfassungskonvents beteiligte er sich an der Ausarbeitung des Entwurfs der EU-Verfassung. 2009 scheidet er aus dem Europaparlament aus.
tagesschau.de: Welche Fähigkeiten mussten Europaabgeordnete damals mitbringen?
Klaus Hänsch: Erstens: Hart arbeiten, damit aus dem Parlament etwas wird. Zweitens brauchte man eine hohe Frustrationsschwelle, bis das Parlament die ersten Gesetzgebungskompetenzen bekommen hatte. Drittens: Man musste Idealismus mit einem gehörigen Maß an Realismus paaren.
Friedrich: Gefragt waren Organisationstalent, Zurechtkommen mit überraschenden Situationen, schnelles Reagieren und Ideenreichtum. Wir mussten ja zum Beispiel bei Gesetzgebungsvorhaben nur angehört werden. Der Rat konnte also allein entscheiden. Um uns Gehör zu verschaffen, haben wir in der ersten Legislaturperiode aber damit begonnen, die Anhörung zu verweigern. Der Gesetzgebungsprozess konnte dadurch nicht weitergehen. Damit haben wir den Rat gezwungen, mehr mit uns zu verhandeln.
"Resolutionitis als Ausfluss des Kompetenzmangels"
tagesschau.de: Gesetze konnten die Abgeordneten ursprünglich nicht beschließen. Womit haben Sie sich in den ersten Jahren beschäftigt?
Hänsch: Vor allem mit Resolutionen. Das war so, dass viele Kollegen aus der morgendlichen Zeitungslektüre gleich eine Resolution für den Nachmittag entwarfen, die dann in langwieriger und minutiöser Arbeit zu einem Kompromiss geführt wurde. Die Resolutionitis war ein Ausfluss des Kompetenzmangels des Parlaments.
Friedrich: Es war auch viel Organisatorisches zu erledigen, zum Beispiel: Wann tagen wir? Wann sind Abstimmungsstunden? Oder die Regelung von namentlichen Abstimmungen. Die Auszählung der abgegebenen Namenszettel dauerte eine bis eineinhalb Stunden. Mit vier Auszählungen konnte man den ganzen Tag blockieren. Es war in diesem multinationalen Parlament sehr viel Arbeit zu leisten, um das Ganze in geordnete Bahnen zu bringen – weg von einem chaotischen, zwar sympathischen, aber völlig ineffizienten Start in den ersten Wochen und Monaten.
tagesschau.de: Von Anfang an hatte das Europaparlament das Recht, über den Haushalt mitzuentscheiden. Der Etat 1980 führte gleich zum Konflikt mit dem Rat. War das der Weg, die eigene Macht auszuloten?
Friedrich: Ja. Wir haben uns gedacht: Über den Haushalt wird auch Politik gemacht. Diesen Hebel sinnvoll zu benutzen, ist uns sehr schnell eingefallen. Lange Zeit war auch der Haushaltsberichterstatter fast der wichtigste Mann neben dem Präsidenten des Hauses.
tagesschau.de: Bei der Gesetzgebung hat das Europaparlament nach und nach an Einfluss gewonnen. Was waren für Sie dabei die Meilensteine?
Hänsch: Der erste Meilenstein war der Vertrag von Maastricht, weil zum ersten Mal überhaupt akzeptiert wurde, dass das Parlament nicht bloß berät, sondern entscheidet. Dann war der eigentliche Durchbruch der Vertrag von Amsterdam, in dem die Zahl der Mitentscheidungsbereiche mehr als verdoppelt wurde. Heute entscheidet das Europäische Parlament in zwei Dritteln der EU-Rechtssetzung mit. Der Verfassungsvertrag beziehungsweise der Lissabon-Vertrag würde das auf 98 Prozent steigern.
tagesschau.de: Wie viel können die Abgeordneten mit dem Recht bewegen, über die Einsetzung der Kommission mitzubestimmen?
Hänsch: Als Präsident des Parlaments habe ich das Anhörungsverfahren für jeden einzelnen Kommissar vor der Vertrauensabstimmung im Plenum eingeführt. Das Parlament und die Öffentlichkeit sollten die einzelnen Kandidaten kennenlernen. Das sind ja in der Regel nur nationale, aber keine europäischen Größen. Es war mir aber klar, dass das Parlament nach einigen Jahren auch zu einzelnen Kommissaren Stellung nehmen würde. Beim letzten Mal hat das Parlament den italienischen Kommissionskandidaten Buttiglione und eine von Lettland vorgeschlagene Kommissarin abgelehnt. Und Barroso war gezwungen, bei den Regierungen zu erwirken, dass sie zurückgezogen werden. Bei dem Ungarn Kovacs hat das Parlament verlangt, dass er ein anderes Ressort bekommt. Das ist also ein Einflusszuwachs um 100 Prozent.
Friedrich: Selbst wenn es gegen unsere parteipolitische Familie ging: Im Kern war die Nichtberufung unseres italienischen Freundes Buttiglione ein Beispiel für das Muskeln-Zeigen des Europäischen Parlaments. Vorher hatten wir schon einmal durch das Misstrauensvotum gegen die Kommission Santer gezeigt, wie mit relativ wenig Kompetenzen doch viel bewirkt oder - man kann auch sagen - angerichtet werden kann.
"Das Europäische Parlament ist einzigartig"
tagesschau.de: Sie scheiden nach 30 Jahren aus dem Europaparlament aus. Wie hat sich Ihr Selbstverständnis als Europaabgeordneter in dieser Zeit verändert?
Friedrich: Die Arbeit ist sehr viel professioneller geworden. Wenn am Anfang organisatorische Aspekte im Mittelpunkt standen und in der zweiten Phase das Durchsetzen guter Ideen, so steht heute die ganz konkrete Gesetzgebungsarbeit im Vordergrund. Die Detailarbeit hat dramatisch zugenommen. Auch die Reaktion bei den Heimatparteien zeigt, dass man die europäische Dimension viel wichtiger nimmt als früher.
Hänsch: Ich weiß heute besser als vor 30 Jahren, dass das Europäische Parlament nicht nur wichtige Arbeit vollbringt, sondern diese Arbeit auch sehr professionell und sehr kompetent vollführt. Die anfängliche Überlegung, das Parlament müsste so sein oder so werden wie ein nationales Parlament, habe ich längst aufgegeben. Ich weiß, dass das Europäische Parlament etwas Einzigartiges ist, für das es kein Beispiel in der Welt gibt.
Das Interview führte David Rose, tagesschau.de.