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Ukraine Feindaufklärung per Flirt

Stand: 29.05.2023 11:15 Uhr

Die Ukraine ist darauf angewiesen, so viele Informationen wie möglich über russische Truppenbewegungen zu erhalten. Dabei stützt sie sich auch auf Infos, die Bürger über ein Regierungsportal liefern - und auf Dating-Apps.

Von Susanne Petersohn, ARD Kiew, Susanne Petersohn, ARD Kiew

Als russische Soldaten vor gut einem Jahr ihre Heimat Cherson, im Süden der Ukraine, überfallen und besetzt halten, als sie zerstören, plündern und töten, will Katya helfen. Die 18-Jährige, die in Wirklichkeit einen anderen Namen hat, beschließt, gemeinsam mit ihren Freundinnen Informationen über russische Soldaten zu sammeln. 

Über Dating-Plattformen und Apps wie Telegram schreibt Katya gezielt über 100 russische Soldaten an. Sie gibt sich als Russin aus, die sich von Soldaten angezogen fühlt. Katya verwickelt sie teils über Monate in Online-Gespräche, gewinnt ihr Vertrauen und entlockt ihnen Informationen.

Spionage in der Ukraine via Dating-App

Susanne Petersohn, ARD Kiew, Weltspiegel, 21.05.2023 18:30 Uhr

Alles scannen, was Informationen enthalten könnte

Katya gibt diese Informationen an die ukrainischen Geheimdienste - und die nehmen sie gerne. Andrii Yusow vom Nachrichtendienst des Verteidigungsministeriums der Ukraine betont, dass Informationen wie die von Katya sorgfältig geprüft würden und sie oft "wirklich nützlich" seien. Auch ukrainische Geheim- und Nachrichtendienste selbst würden Chats, Apps, Mobildaten und alles scannen, was wichtige Informationen zum Krieg enthalten könnte. 

"Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird als der erste Online-Krieg bezeichnet", sagt Yusow. Dazu gehörten eben auch Dating-Seiten. Daher würde es seiner Meinung nach seltsam sein, "wenn die Ukraine nicht alle Instrumente nutzen würde, um sich vor dem völkermörderischen Krieg der Russen zu schützen". 

Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer würden Bild- und Videomaterial an die ukrainischen Behörden schicken, erklärt Nachrichtendienstler Yusow. Es sind so viele, dass das ukrainische Ministerium für Digitale Transformation im vergangenen Jahr eine eigene Software entwickelt hat, um die Informationen auszuwerten.

Erweiterung einer Regierungs-App

Diese Software ist in die offizielle Regierungs-App Diia integriert. Etwa 19 Millionen Benutzer sind hier aktuell registriert. Sie wurde 2020 eingeführt und ermöglicht es ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern, digitale Dokumente mit ihren Smartphones anstelle von physischen Dokumenten zur Identifizierung zu verwenden. Die Regierung plant, alle Interaktionen zwischen Staat und Bürgern über Diia möglich zu machen. 

Nach Beginn des russischen Angriffskriegs fügte die Regierung diese neue Software ein. "Damit können die Menschen leicht Informationen über die Bewegung des Feindes, über ihre Flugzeuge, die Platzierung von Ausrüstung und andere Dinge weitergeben", erklärt Mstyslav Banik vom ukrainischen Ministerium für digitale Transformation. 

Nach eigenen Angaben hat das Ministerium aus allen Informationen der Zivilisten knapp 500.000 Berichte zu möglichen militärischen Zielen zusammengestellt. Das hilft den ukrainischen Streitkräften, ihre Einsätze zu planen. 

"Die Nachfrage der Streitkräfte der Ukraine ist konstant", sagt Banik. "Und immer wieder werden wir gebeten, die Informationen zu aktualisieren." Es würden auch konkrete Orte oder Ziele abgefragt, zum Beispiel über die Radarausrüstung der Russen, erklärt Banik.

Verbindung in besetzte Gebiete

Auch Victoria hat die ukrainische Regierung mit Informationen über russische Soldaten versorgt. Sie ist Journalistin in der südukrainischen Stadt Mykolajiw. Als sie die Informationen von Mitbürgern für die Regierung sammelte und sortierte, war Mykolajiw direkt an der Front. "Wir waren im Prinzip die einzige Verbindung zwischen Menschen, die unter Besatzung standen und den Geheimdiensten, denen wir diese Informationen übermitteln konnten", erzählt sie. 

Für solche Informationen begeben sich Zivilisten immer wieder in Gefahr, ganz besonders in den von Russland besetzten Gebieten. Die russischen Soldaten und Söldner gelten als brutal. Inzwischen wurden zahlreiche Folterkammern, mutmaßlich für ukrainische Zivilisten, entdeckt.

Hinzu kommt, dass niemand wisse, wem man trauen kann und wem nicht, erzählt Victoria. "In Mykolajiw gab es eine Menge Kollaborateure und Spione", sagt sie. "Es war beängstigend." Trotz allem halte sie es für ihre Pflicht, zu helfen und ihre Recherchefähigkeiten als Journalistin einzusetzen. 

Angst, in die Kampflinie zu geraten

Auch im Dorf Blahodatne, in der Region Cherson, gaben Bewohner während der Besatzung Informationen heimlich an das ukrainische Militär weiter. Auch sie hatten Angst, entdeckt zu werden - aber auch davor, in die Kampflinie zu geraten. 

"Einmal haben wir unsere Leute inständig gebeten, nicht genau preiszugeben, wo die Russen stationiert sind", erzählt die Dorfbewohnerin Ira. "Denn wir haben verstanden, wie nah wir an ihren Stellungen wohnten, und dass wir getroffen werden könnten, wenn unsere Leute die Russen beschießen." 

Ira glaubt aber auch, dass das Dorf, in dem sie lebt, ohne solche Informationen vermutlich immer noch unter russischer Besatzung wäre. Und der Tag der Befreiung, sagt sie, sei ihr glücklichster Tag gewesen.

Notwendige Täuschung

So einen Tag wünscht sich auch Katya für die ganze Region Cherson. Ein Teil ist immer noch unter russischer Besatzung und weite Teile stehen unter heftigem Beschuss. Katya hofft, dass sie bald in eine friedliche Heimat zurückkehren kann.

Sie weiß nicht, wie viele ihrer Informationen zu direkten Angriffen auf diejenigen geführt haben, denen sie sie entlockt hat. Aber sie hat geholfen, das ist ihr wichtig. Sie hat getan, was sie konnte, um die Eindringlinge aus ihrer Heimat zu vertreiben. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der Weltspiegel am 21. Mai 2023 um 18:30 Uhr.