Humanitäre Lage in der Ukraine "Wir werden Jahrzehnte darunter leiden"
Zerstörte Kliniken, kein Strom, verletzte und traumatisierte Menschen, Millionen Binnenflüchtlinge - neben militärischer dürfe humanitäre Hilfe nicht vergessen werden, sagt Generalsekretär Dotsenko vom Ukrainischen Roten Kreuz.
tagesschau.de: Wie muss man sich die Arbeit von Rettungskräften und in medizinischen Einrichtungen unter den Kriegsbedingungen in der Ukraine vorstellen?
Maksym Dotsenko: Es ist sehr schwer, das Leiden zu beschreiben. An Orten an der Front, wie Bachmut etwa, sind 60 Prozent der Stadt zerstört. Die gesamte Infrastruktur ist zerstört. Aber es gibt Menschen, die dort trotzdem noch leben. Sie verstecken sich rund um die Uhr im Luftschutzraum. Sie haben keinen Strom, kein Wasser. Und diese Menschen müssen wir versorgen.
Dabei gibt es durchgehend Beschuss. Mehr als 2000 medizinische Einrichtungen sind in der Ukraine ganz oder teilweise zerstört. Und dann gibt es die Angriffe auf unsere Elektrizitäts-Infrastruktur, was den Ärzten besonders große Probleme bereitet. Das ist das bei Weitem größte Problem. Denn ohne Strom können die Ärzte nicht arbeiten, nicht helfen.
Und trotzdem arbeiten sie weiter, dank Generatoren, die aus der ganzen Welt geliefert werden. Und dank der Arbeiter, die pausenlos das Stromnetz reparieren. Es ist wirklich nicht ideal, aber die grundlegende medizinische Versorgung funktioniert trotz allem irgendwie weiterhin.
"Wir brauchen sehr, sehr viele Generatoren"
tagesschau.de: Und was ist derzeit das größte Problem bei der Gesundheitsversorgung?
Dotsenko: Viele Menschen, allein 10.000 Zivilisten, sind verwundet und brauchen Betreuung bei der Genesung - aber sehr viele brauchen auch psychologische Betreuung. Unser Gesundheitssystem kann eine so große Zahl von Patienten einfach nicht versorgen. Diese Probleme werden uns sehr lange beschäftigen, wir werden Jahrzehnte darunter leiden.
Die Versorgung mit Medikamenten an sich ist nicht so schlecht, die ist halbwegs in Ordnung. Aber wir brauchen halt Generatoren - sehr, sehr viele Generatoren, um überhaupt arbeiten zu können - wenigstens für die kritische Infrastruktur, wie Krankenhäuser. Und sobald Krankenhäuser wiederaufgebaut sind, brauchen sie Ausrüstung.
Und dann gibt es die Binnenflüchtlinge, die aus dem Norden, Osten und Süden in den Westen des Landes geflohen sind. Dort ist der Druck auf das Gesundheitssystem daher gewaltig.
Sieben Millionen Binnenflüchtlinge
tagesschau.de: Können Sie uns mehr über die Versorgung der Binnenflüchtlinge erzählen?
Dotsenko: Die Bandbreite der Probleme, von der Evakuierung bis zur Unterbringung der Flüchtlinge, ist sehr groß. In der Ukraine gibt es sieben Millionen Binnenflüchtlinge. Viele wollen zurück in ihr altes Zuhause, sobald die Sicherheitslage das zulässt. Aber in vielen Regionen geht das noch nicht. Und viele Menschen haben schlicht keine Wohnung mehr, weil die weg ist.
Diesen Menschen müssen wir nicht nur Notunterkünfte zur Verfügung stellen, sondern sie müssen auch ein dauerhaftes, neues Zuhause bekommen und in eine neue Heimat integriert werden. Manche können selbst mieten oder wohnen bei Freunden oder Familie. Anderen muss der Staat eine Unterkunft bauen.
Eine andere Konsequenz des Krieges sind riesige Verschiebungen am Arbeitsmarkt. Viele Menschen haben einfach ihre Arbeit verloren. Die brauchen oft auch eine neue Ausbildung.
"Manchmal wird humanitäre Hilfe vergessen"
tagesschau.de: Welche Hilfe erwarten Sie aus dem Ausland, etwa von Deutschland?
Dotsenko: Es gibt eine starke Fokussierung auf militärische Unterstützung. Die ist auch nötig. Aber manchmal wird darüber die humanitäre Hilfe vergessen. Wir brauchen so viel Unterstützung. Nicht nur für Binnenflüchtlinge und Verletzte, sondern auch für die vielen Menschen, die in zerstörten Wohnungen leben und stark leiden. Jeder Ukrainer ist in der einen oder anderen Art betroffen und braucht Hilfe, physisch, psychisch oder sozial.
Dafür brauchen wir Geld. Sehr viel Geld, auch aus Deutschland. Das Deutsche Rote Kreuz hilft uns schon. Aber es ist nicht genug. Und wir brauchen nicht nur jetzt Gelder, sondern auch in der Zukunft. Über Jahre hinweg. Wir brauchen von unseren Partnern im Ausland garantierte, klare Zusagen für Gelder, mindestens für die kommenden zwei, drei Jahre, damit wir planen können.
Kein Mangel an freiwilligen Helfern
tagesschau.de: Hat das Rote Kreuz in der Ukraine genügend Freiwillige?
Dotsenko: Wir haben keinen Mangel an Freiwilligen, im Gegenteil. Wo auch immer wir Helfer brauchen, kommen die Menschen auf uns zu. Sie arbeiten unter sehr schwierigen Bedingungen und wir versuchen immer, unsere Freiwilligen vor Gefahren zu schützen, bieten Therapie.
Und bislang ist die Zivilgesellschaft sehr stark. Die ukrainische Gesellschaft ist stark.
Das Gespräch führte Christoph Schwanitz, tagesschau.de