Boomender Patriotismus "Ukrainischer Spirit total angesagt"
Russlands Angriff hat in der Ukraine nicht nur einen Widerstandswillen ausgelöst, sondern auch eine Rückbesinnung auf die eigene Kultur. Viele sehen dies als einen Akt der Selbstbehauptung.
"Eine freie Ukraine oder der Tod" - das steht in großen Buchstaben an einigen Checkpoints, die im ganzen Land aufgestellt wurden. Wenn Soldaten mit ihren Panzern auf den Straßen vorbeirollen, winken die Menschen ihnen zu. Überall im Land weht die blau-gelbe Flagge: im Supermarkt, im Restaurant, an Hauswänden.
Eugene ist ein Musiker aus dem Donbass. Seine Muttersprache ist Russisch. Eugene ist vor den russischen Truppen geflohen, wohnt jetzt in Dnipro, in der Zentralukraine. Und heute singt er seine Lieder auf Ukrainisch. Das kommt auch bei den Soldaten gut an. "Ich bekomme Nachrichten aus den Schützengräben", erzählt er. "Das klingt jetzt so, als wollte ich damit angeben. Aber, hey - ich finde es gut, wenn ich den Leuten im Kampf mit meiner Musik helfen kann."
Vor kurzem hat Eugene einen neuen Musikstil erfunden: Don-Bossanova nennt er ihn. Seine Songs hätten rein gar nichts mit Politik zu tun, sagt Eugene. Es gehe vor allem um Identität: "Ich hatte das Gefühl, unser Land verschwindet einfach. Stück für Stück. Und ich will eine Legende über uns erschaffen, um das zu verhindern."
Eugene trifft sich am Rande eines Konzertes mit Freunden im Kulturzentrum in Dnipro. Hier arbeitet er seit kurzem. Der Eintritt ist frei, dafür steht mitten im Saal eine Spendenbox auf dem Tisch: Das Geld geht an die Soldaten an der Front.
"Total angesagt: der ukrainische Spirit"
Nur einige Räume weiter basteln und sticken Männer und Frauen gemeinsam an einem Tisch. Nadja, Mitglied eines Künstlerkollektivs, bringt den Kursteilnehmern traditionelles Kunsthandwerk bei. Der "ukrainische Spirit" sei jetzt "total angesagt", sagt Nadja: "Gerade hier in der Zentralukraine und im Osten des Landes hatten wir kaum noch ukrainische Traditionen gelebt. Aber jetzt kommen viele Leute, um mehr über ihr kulturelles Erbe zu erfahren, über die eigene Geschichte. Das ist gerade jetzt wichtiger denn je."
Auch wenn es vielen Menschen in der Ukraine schwerfällt: Sie versuchen, mehr als früher auch in ihrem Alltag Ukrainisch zu reden. Vor dem russischen Einmarsch hatten viele zu Hause eher Russisch gesprochen.
Auch Nadja hat Ukrainisch erst in der Schule gelernt: "Mein ganzes Leben habe ich vor allem Russisch gesprochen, aber jetzt versuche ich, mehr Ukrainisch zu reden, genau wie meine Freunde. Sogar meine Mutter macht das jetzt, obwohl es für sie ist es viel schwieriger, Ukrainisch zu lernen. Aber sie ist jetzt voll davon überzeugt und ja, sie versucht es."
"Trink' es, fühl' es, sag' es"
Erst vor einigen Jahren hat in Dnipro die Brauerei Mowa eröffnet. Ein junges Team stellt hier verschiedene Sorten Bier her, die im Land richtig angesagt sind. "Mowa" ist ein ukrainisches Wort und heißt übersetzt: "Sprache". Das Firmenmotto tragen die Bierbrauer auf dem Rücken ihrer T-Shirts: "Trink' es, fühl' es, sag' es."
Nur wenige Mitarbeiterinnen seien kurz nach Kriegsbeginn in den Westen geflohen, eigentlich nur die mit Kindern, sagt Bogdan, der Braumeister von Mowa. Die meisten arbeiteten auch jetzt immer noch weiter. Trotz Krieg: "Keiner aus dem Team hat uns den Rücken gekehrt, obwohl anfangs ja nicht einmal klar war, ob wir weiter Gehälter zahlen können." Darauf sei er stolz - "und auch stolz, dabei sein zu dürfen".
Mitten im Interview bricht Bogdan auf einmal ab, er kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, überwältigt von den vergangenen Wochen. Es sei eben alles nicht so einfach, obwohl er die ganze Zeit stark geblieben sei.
Am Anfang des Krieges lieferte die Brauerei gefiltertes Wasser an Krankenhäuser. Nun stehen Dutzende Leute in der Kantinenküche und bereiten Mahlzeiten zu, bis zu 1500 am Tag. Für Flüchtlinge, die nach Dnipro gekommen sind und für die Soldaten an der Front. "Wir machen weiter, bis zum Sieg", sagt Bogdan. "Ja, bis wir gewonnen haben."
Unmissverständliche Aufforderung: das Firmenmotto der Brauerei Mova macht den Genuss des eigenen Bieres zum patriotischen Akt.
Der Traum von der Rückkehr nach Mariupol
Auf einen Sieg hoffen viele Ukrainerinnen und Ukrainer, wie sonst könnten sie noch weiterleben. Positive Gedanken an die Zukunft würden ihm Kraft geben, sagt der Musiker Eugene. Er plant neue Projekte: Neben Don-Bossanova will er mehrere Songs unter dem Label Dnipro-Pop starten.
Vor dem Krieg hatte er ein Lied über Mariupol komponiert. Die Stadt, in der fast alles zerstört ist, in der fast zwei Monate lang so heftig gekämpft wurde, dass sie nun kaum mehr steht. Deren Trümmer nun fast vollständig unter russischer Kontrolle stehen. "In meiner Hand ein Ticket nach Mariupol“ heißt es in einer der Liedzeilen von Eugene.
Derzeit sieht es nicht danach aus, als könnten die Menschen ein solches Ticket schon bald wieder einlösen. Die Hoffnung auf eine freie Ukraine aber geben die meisten hier noch nicht auf.