Atomgefahr in Nikopol "Das geht die ganze Welt was an"
Seitdem russische Truppen das AKW Saporischschja in der Südukraine besetzen, löst dessen Zustand international Besorgnis aus. Nikopol liegt nur wenige Kilometer davon entfernt. Wie gehen die Menschen dort damit um?
"Bitte lächeln", sagt Mychailo Mawrodij, als er die verbarrikadierte militärische Kreisverwaltung von Nikopol betritt. "Man möchte wissen, wie ihr unter Beschuss lebt", sagt der Verwaltungsmitarbeiter trocken. Doch das Team im Vorzimmer des Chefs verbreitet ohnehin gute Stimmung. "Hier soll es gefährlich sein? Nein, das ist es nicht", scherzen zwei Frauen und ein Kollege ergänzt: "Achten Sie nicht darauf, sie steht unter Medikamenteneinfluss." Alle lachen.
Sie seien nicht immer so gelassen, wird eine Mitarbeiterin dann ernst. Wenn stark geschossen werde, gingen sie auf den Korridor. "Einen Keller haben wir auch, aber das ist nur ein relativer Schutzort und im Ernstfall wohl doch eher ein gemeinsames Grab."
Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
Zwischen Dauerbeschuss und Atomgefahr
Die Stadt Nikopol liegt am Dnipro im Südosten der Ukraine, und der Fluss ist hier die Frontlinie. Am Ufer direkt gegenüber stehen nur wenige Kilometer entfernt die sechs großen Blöcke des Atomkraftwerks Saporischschja. Die größte Atomanlage Europas ist seit fast 17 Monaten russisch besetzt und der Leiter der militärischen Kreisverwaltung, Jewhen Jewtuschenko, rechnet jederzeit mit einer nuklearen Katastrophe.
Das AKW sei ein Problem für ganz Europa und eine Gefahr, die alle bedrohen würde. Es sei wie in einem Theaterstück, wird er ein wenig sarkastisch. Die Waffe die im ersten Akt auftauche, werde im letzten Akt abgeschossen. "Die internationale Gemeinschaft, wir alle, müssen die Russen aus dem AKW Saporischschja vertreiben. Solange sie dort sind, ist die ganze Welt in Gefahr."
Nur etwa die Hälfte der rund 100.000 Bewohnerinnen und Bewohner ist in Nikopol geblieben. Die Stadt wird vom gegenüberliegenden russisch besetzten Ufer aus unaufhörlich beschossen. Auch tagsüber herrscht oft Luft- und Artilleriealarm. Beim Rundgang mit Mawrodij ertönen ebenfalls häufig Sirenen. "Jeder Tag ist eine Lotterie", meint er, aber alle kommunalen und medizinischen Einrichtungen sowie Bildungseinrichtungen funktionierten, wenn auch online. Er zeigt auf einen Bus, der gerade an einer Haltestelle hält. "Das Leben geht weiter, auch während des Kriegs", so Mawrodij.
Ein Leben, um Tausende zu retten
Die Leben in Nikopol hängen am seidenen Faden, das erlebt Artem Schuldjakow jeden Tag. Tote und Verletzte aus beschossenen Häusern bergen, Raketen-Feuer löschen, Trümmer wegräumen. Verzweifelte trösten und selbst nicht verzweifeln dabei, das ist sein aufreibender Kriegsalltag beim ukrainischen Katastrophendienst.
Artem Schuldjakow und seine Kollegen vom Katastrophendienst rücken auch aus, wenn der Beschuss noch läuft.
Auch an den Außenwänden des Katastrophendienstes sind Einschusslöcher zu sehen, und ein zerschossener Lada steht im Innenhof. Dort zeigt ein großes Wandbild die Rettungsleute beim Feuer löschen oder vor schwarz verbrannten Landschaften. "Ein Leben, um Tausende zu retten", steht darauf. Auf unseren jungen Schultern lastet viel, bemerkt der 28-jährige Schuldjakow ernst. Nach russischen Angriffen rücken er und seine Kollegen aus, auch während laufender Beschießungen fahren sie eilig los, denn jede Minute zählt.
"Wir sehen viel Kummer und viele verstümmelte Menschen", erzählt Schuldjakow während des Gesprächs im Schutzraum vor einem bescheidenen Stockbett. Viele fänden ihre Angehörigen tot oder ohne Gliedmaßen vor. Das sei sehr schwierig, und der Katastrophendienst biete sowohl Angehörigen als auch den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern psychologische Hilfe an. "Wenn wir selbst in guter Verfassung sind, können sich die Menschen auf uns verlassen."
Das AKW Saporischschja im Physikunterricht
Ein paar Straßen weiter steht Direktorin Oksana Skrypnyk auf dem leeren Hof ihrer verlassenen Schule. 27 Jahre lang unterrichtet sie schon, doch diese fast gespenstische Ruhe im Lyzeum Nummer vier ist nur schwer auszuhalten. Allerdings wäre alles andere als Online-Unterricht zu gefährlich, erzählt die 57-Jährige mit den langen rot gefärbten Haaren.
Mit ihren Schülerinnen und Schülern redet die Physiklehrerin auch über das beunruhigende russisch besetzte Atomkraftwerk Saporischschja am Ufer gegenüber. "Wir sind ständig in Kontakt mit den Kindern und erklären ihnen, dass wir uns in der Nähe eines Atomkraftwerks befinden. Wir reden über alle Risiken, die ihnen begegnen könnten, und manchmal können wir sie damit beruhigen."
Kinder könnten sich zwar besser als Erwachsene an die Situation anpassen, so ihre Beobachtung. Doch viele hätten Depressionen und würden aus Angst vor lauten Geräuschen oft aufspringen. Kinder aus Nikopol, die im Ausland lebten, hätten oft großes Heimweh. Die Schule versucht, sowohl Eltern als auch Kinder und Jugendliche psychologisch zu unterstützen, hält engen Kontakt und setzt auf Zusammenhalt.
Geboren im Keller während Beschusses
Im Keller des Kinder-Krankenhauses in Nikopol wartet Wadik unterdessen auf das Ende eines weiteren Alarms. Auf einem der schmalen Betten des Schutzraums versteckt sich der blasse Junge hinter dem Rücken seiner Mutter Maria Schutowa. Diese hält ihre winzige Tochter Christina im Arm, die vor einigen Monaten im Keller der Geburtsklinik von Nikopol zur Welt kam. "Die Kleine weiß seit ihrer Geburt, was ein Keller ist", sagt ihre Mutter leise.
"Sie schießen, um uns zu töten", so beschreibt die alleinerziehende Mutter, was sie und ihre Kinder durchleben müssen. Auch die ältere Tochter Ivanka erzählt, wie sie am Morgen beschossen wurden. "Die Fenster haben gewackelt, weil der Beschuss heute Morgen so stark war. Ich habe im Schlaf gehört, wie wir beschossen werden und mir die Decke über den Kopf gezogen. Ich hatte Angst."
Maria Schutowa mit Sohn Wadik und dem Säugling Christina im Schutzraum des Krankenhauses. Das Baby wachse nicht, sagen die Ärzte.
"Ich möchte in der Ukraine sterben"
Schon früher habe sie laute Explosionen gehört, und einmal habe es im Haus einen Einschlag gegeben. Ivankas beste Freundin lebt in Deutschland und wird von dem Mädchen schmerzhaft vermisst. Sie wolle dennoch nicht fort, meint die Zwölfjährige mit den roten Locken und sagt einen erschütternden Satz: "Ich möchte in der Ukraine sterben."
Die Familie lebt rund 30 Kilometer von Nikopol entfernt. Maria Schutowa ist wegen des Babys zur Untersuchung ins Krankenhaus gekommen, das ebenfalls schon beschossen wurde. Alles sei in Ordnung, meint sie und schaukelt die kleine Christina auf dem Arm. Das stimmt nicht, flüstert die Ärztin Julia Andriiwna besorgt. Die kleine Christina wachse nicht, sagt sie dann. "Das sind die Umstände, eine Mischung aus allem. Wir tun hier alles, um das Leben der Kinder irgendwie zu verbessern, wenn man das überhaupt so sagen kann."
Gestörte Wasserversorgung seit Staudammbruch
Seit der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Anfang Juni ist auch in Nikopol die Wasserversorgung ein Problem, da wichtige Pumpen überflutet wurden. Reparaturen sind wegen des russischen Beschusses schwierig, und die Menschen müssen sich zusätzlich an öffentlichen Wasserversorgungsstellen behelfen.
Seit dem russischen Großangriff sind im Kreis Nikopol mindestens 50 Menschen bei russischen Angriffen getötet worden. Mehr als 230 wurden verletzt. Fast 3000 Häuser sind beschädigt und fast 60 Kindergärten, Reha-Zentren oder Schulen. Lyzeum Nummer vier steht bisher, und Schuldirektorin Oksana Skrypnyk möchte unbedingt bleiben. Sie habe zwar Angst vor russischer Besatzung, aber wenn die ganze Stadt weggehe, werde niemand mehr da sein, den man verteidigen könne. "Wir müssen alles dafür tun, dass die Menschen einen Ort haben, an den sie zurückkehren können."