Kriegsversehrter Ukrainer "Wir wissen, wofür wir kämpfen"
Michailo, 40, eigentlich Ingenieur und Vater von drei Kindern, hat im Kampf gegen Russland ein Bein verloren. Die Hoffnung gibt er aber nicht auf - und will vielleicht sogar wieder zur Armee.
Die Straßen der Ukraine sind mit Plakaten von Soldaten gesäumt: schwerbewaffnete Männer, die Selbstvertrauen, Kraft, Gesundheit ausstrahlen. Aber seit Russland die Ukraine im Februar 2022 überfallen hat, gibt es auch immer mehr Kriegsversehrte. Laut vorsichtigen Schätzungen sind es bereits jetzt bis zu 200.000.
Einer von ihnen ist Michailo, er ist im Moment in einer Reha-Klinik in Lwiw. Friedlich plätschert der Springbrunnen vor dem städtischen Krankenhaus, Michailos Lieblingsplatz. Doch das Video, das er auf seinem Handy betrachtet, ist brutal: Es zeigt ihn am Boden, nur Augenblicke, nachdem eine Antipersonen-Mine sein linkes Bein oberhalb des Knies abgerissen hat.
Mitte Juni war Michailo mit seiner Einheit in der Region Saporischschja im Süden der Ukraine unterwegs, als er auf die Mine trat. Schmerz habe er zunächst gar nicht gespürt, nur großes Erstaunen. Deshalb habe er einen Kameraden gebeten, ihn verstümmelt in seiner blutigen Uniform aufzunehmen: Und auch den Ort der Detonation zu filmen - nur für sich selbst, damit er später nachvollziehen könne, was ihm geschah.
Michailo meldete sich freiwillig zum Dienst
Sechs Wochen nach seiner Verwundung sitzt der 40-Jährige im Hof der Reha-Klinik in der West-Ukraine, weit weg von der Front, und betrachtet das Video - wieder und wieder. Bis zu der russischen Großinvasion im Februar 2022 baute der Vater von drei Söhnen Wasserstoffanlagen für ein ukrainisches Unternehmen. Dann meldete der Ingenieur sich freiwillig für den Kampf gegen die Angreifer.
Eingang des städtischen Krankenhauses in Lwiw
"Am 14. Juni klopfte sein Bruder bei uns an, ich wusste, er hatte keine guten Nachrichten." Michailos Ehefrau Oksana erinnert sich genau, wie sie von seiner Verwundung erfuhr. Seit Michailo aus dem Krankenhaus nahe der Front in die Reha-Klinik in Lwiw verlegt worden ist, besucht Oksana ihn jeden Tag, oft mit den Kindern. Der jüngste ist erst drei Monate alt, zur Geburt hatte Michailo noch Fronturlaub erhalten. "Die Verletzung hat ihn verändert. Ich kann nicht mal ahnen, wie schwer das ist. Aber er kommt schon damit zurecht", sagt seine Frau.
Die junge Frau ist Kriminalbeamtin. Jetzt hat sie Mutterschaftsurlaub und schiebt behutsam den Kinderwagen mit dem jüngsten Sohn hin und her, während sie in der Reha-Klinik darauf wartet, dass Michailo von der Physiotherapie kommt.
Bald nach der Verwundung wurde Michailo nach Lwiw in die Reha-Klinik verlegt. Sein Bein konnte nicht gerettet werden, er bewegt sich mit Gehhilfen und wartet auf die Anpassung einer Prothese. Physiotherapeutin Roxeliana bereitet ihn mit täglichen Übungen darauf vor. "Wir arbeiten mit dem Stumpf, um Krämpfe zu vermeiden, um Muskulatur aufzubauen. Als nächstes sind Übungen für Gleichgewicht und Koordination dran. Michailo liebt diese Übungen, er will immer noch mehr machen."
Im Gespräch ist Michailo offen und zugewandt, mit der Physiotherapeutin scherzt er. Allein hat er oft Albträume, überkommen ihn Wut und Niedergeschlagenheit. Wegen der post-traumatischen Belastungsstörung macht er eine Psychotherapie.
Alles ist anders - Michailo bleibt optimistisch
Schon um seiner Familie willen müsse er sich an dieses neue Leben als Versehrter gewöhnen, sagt Michailo. "Ich muss einfach akzeptieren, dass jetzt alles anders ist: der Lebensrhythmus, die Bewegungen; für alles brauche ich mehr Zeit als ein normaler Mensch. Letzten Endes bin ich so aktiv, weil ich das Leben genieße."
Das heißt aber nicht, dass Michailo mit dem Krieg abgeschlossen hat. Sobald er sich an die Prothese gewöhnt hat, will er zurück in die Armee. Nicht an die Front, das ist vorbei. Aber vielleicht in die Logistik oder die Ausbildung. "Ich habe meinen Meter Ukraine mit meinen Gliedmaßen befreit, jetzt werde ich eben meinen Kopf für den Kampf gegen Russland einsetzen", sagt Michailo.
Kein ungewöhnlicher Wunsch unter seinen Patienten, hat der Psychologe Oleksij Smirnow beobachtet, der in Lwiw Kriegsversehrte betreut: "Viele wollen zurück in die Armee, bestätigt Smirnow. Wer unterhalb des Knies amputiert ist, der wird sogar wieder an der Front eingesetzt. Und die Männer wollen das."
Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
Michailos Ehefrau Oksana ist von den Plänen ihres Mannes nicht begeistert: "Im Augenblick mag ich gar nicht daran denken. Noch bin ich nicht bereit, ihn wieder ziehen zu lassen."
Michailo stammt aus Donezk im Osten der Ukraine, wo bereits seit 2014 Krieg zwischen der Ukraine und russlandfreundlichen Separatisten herrscht. Dort haben er und Oksana sich einst kennengelernt. Als ein Teil des Gebiets Donezk 2014 unter Moskaus Kontrolle kam, zog das Paar weg. Auch wegen dieses Verlusts hofft Michailo, dass die Ukraine sich gegen Russland behauptet.
"100 Prozent werden wir siegen, es ist nur eine Frage der Zeit", sagt Michailo. "Wir Ukrainer sind dem Feind in vieler Hinsicht unterlegen. Aber wir sind auch lernfähig, haben Verbündete und vor allem ein starkes Motiv: Die Russen, die wissen nicht, wofür sie kämpfen. Wir dagegen, wir schon!"