Ukrainische Kriegsgefangene Russland spielt mit dem Leid der Angehörigen
Manche ukrainische Kriegsgefangene warten schon seit zwei Jahren auf ihren Austausch. Ein Lebenszeichen bekommen ihre Angehörigen nur selten. Russland nutzt die Situation, um die Ukraine weiter unter Druck zu setzen.
Maria war gerade mal einen Monat alt, als ihr Vater in den Krieg zog. Seitdem hat sie ihn nicht mehr gesehen. Erst vor Kurzem konnte die mittlerweile Zweijährige erstmals per Videochat mit dem Papa sprechen, erzählt ihre Mutter Anna Lobowa: "Anstelle von 'Hallo Papa' hörte er einen schrecklichen Schrei, weil seine Tochter Angst hatte. Meinem Mann kamen die Tränen." Wegen der schlechten Verbindung habe er die Tochter und sie nur hören können. "Zwei Menschen, die sich eigentlich so nahe stehen, wissen voneinander kaum etwas, sind wie Fremde."
Anna Lobowas Mann Oleg ist seit zwei Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft. Er gehört zu den Soldaten der Asow-Brigade, die über Wochen das Stahlwerk in Mariupol verteidigten, bis sie sich ergeben mussten. Sein Anruf ist das erste Lebenszeichen nach langer Zeit. Anderen Angehörigen von Asow-Soldaten geht es ähnlich.
Video-Appelle an Selenskyj
Auch Maria Aleksejewytsch erhielt nach langer Zeit der Ungewissheit plötzlich eine Nachricht, dass sie mit ihrem Mann Serhij sprechen könne. In einer Gruppe im Messenger Telegram sei ein Aufruf gepostet worden: "Sie veröffentlichten einen Beitrag, wo sie Frauen von namentlich genannten Männern aufforderten sich zu melden", sagt Maria. Als sie antwortete, habe man ihr ein Telefonat mit ihrem Mann in etwa zwei Wochen versprochen und ihr zugesichert, das Gespräch bliebe vertraulich.
Serhij meldete sich tatsächlich. Ungefähr eine Minute konnten sie miteinander sprechen. Vertraulich blieb es aber nicht, denn schon wenige Minuten danach erschien eine Aufzeichnung im Internet. Eine andere Person im Raum hatte ihren Mann während des Anrufs von der Seite gefilmt.
Zusätzlich wurde eine Videobotschaft von ihm veröffentlicht. Darin sieht Serhij sehr schmal aus, seine Wangenknochen zeichnen sich im Gesicht ab. Er blickt in die Kamera und wendet sich in russischer Sprache, mit brüchiger Stimme direkt an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: "Herr Präsident! Bitte machen Sie alles Menschenmögliche, damit ich so bald wie möglich ausgetauscht werden kann."
Ähnliche Videos werden auch von anderen Gefangenen veröffentlicht. Sie alle bitten um ihren baldigen Austausch. Manche fragen, warum ihnen nicht geholfen wird, schließlich hätten sie der Ukraine treu gedient und alle Befehle ausgeführt.
Folter und Tode in Gefangenschaft
Die Männer gehören zu den etwa 900 Asow-Kämpfern, die laut ukrainischen Medienberichten noch in russischer Gefangenschaft sein sollen. Seit mehr als einem Jahr konnten keine Soldaten der Brigade durch einen Gefangenenaustausch befreit werden. Diejenigen, die ausgetauscht wurden, berichten von grausamen Bedingungen in russischer Kriegsgefangenschaft. Mit einem ehemaligen Kriegsgefangenen, der ebenfalls in der Asow-Brigade dient, konnte die ARD sprechen. Seinen Namen will der 27-Jährige nicht sagen.
Ein typischer Tag im Gefängnis habe mit Folter begonnen. "Vor dem Frühstück wurden wir geschlagen, mit allem was sie hatten: Hämmer, Keulen, mit Fäusten und Elektroschockern." Die meiste Zeit hätten die Gefangenen nur herumsitzen können. Zum Mittag gab es Wasser mit Kohl, am Abend habe man sie wieder geschlagen.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Der Soldat war 120 Tage in russischer Gefangenschaft, er wurde zusammen mit anderen im September 2022 ausgetauscht. Seine Schilderung der Haftbedingungen deckt sich mit denen anderer. Für einen Bericht haben die Vereinten Nationen 60 ehemalige Kriegsgefangene befragt. Auch sie erzählen von Folter in den russischen Gefängnissen. Immer wieder kommt es in der Haft auch zu Todesfällen. Ende Juli wurde bekannt, dass ein 55-jähriger Asow-Soldat in Rostow am Don gestorben ist. Todesursache unbekannt, heißt es in der Sterbeurkunde, die der Asow-Brigade vorliegt.
"Nicht an den Inhalt der Gespräche glauben"
Jeder Tag in russischer Gefangenschaft sei ein Tag der Folter, sagt Petro Jazenko. Er ist Sprecher des Koordinierungstabes für den Umgang mit Kriegsgefangenen. Die Behörde verhandelt direkt mit den Russen um Gefangenenaustausche. Schnellstmöglich wolle man alle Staatsbürger wieder zurückholen. "Es ist aber ein großes Problem, dass die russische Seite manchmal den Austausch verschiebt oder sogar stoppt", sagt Jazenko. So hatte es nach einem Austausch im August 2023 ein halbes Jahr lang keinen weiteren mehr gegeben.
In der Zwischenzeit übe Russland Druck auf die Ukraine aus, sagt Jazenko: Die Art der Anrufe bei den Verwandten und die veröffentlichten Videobotschaften der Gefangenen seien ein Beispiel dafür. Er glaubt, die Angehörigen sollen so davon überzeugt werden, dass die Ukraine sich zu wenig für einen Austausch einsetze. Auch wenn es für die Familien gut sei, dass sich die Männer melden, nutze Russland das für seine Propaganda aus. "Die Familien sollten nicht an den Inhalt dieser Gespräche glauben", rät er. "Alles kommt zu 100 Prozent unter Überwachung und Druck der russischen Seite zustande."
Auch Maria Alexejewytsch glaubt, dass Russland mit den Videobotschaften Absichten verfolgt. Doch die Bitte ihres Mannes Serhij um einen Austausch sei echt, sagt sie. Zusammen mit anderen Frauen gefangener Asow-Soldaten hat sie eine Initiative gegründet, die auf das Schicksal der Soldaten aufmerksam machen will. Sätze der ukrainischen Regierung wie "Alle Kriegsgefangenen werden ausgetauscht" und "Russland verzögert den Austausch" reichen ihr nicht aus.
Die Kämpfer im Asow-Stahlwerk hatten so lange den Ort verteidigt, bis die ukrainische Regierung sie aufgefordert hatte, wegen der ausweglosen Lage die Waffen niederzulegen und sich in Kriegsgefangenschaft zu begeben. Danach sei ihnen von ukrainischer Seite versprochen wurden, man werde nach vier Monaten alle austauschen - doch das geschah bislang nicht. "Man sagt uns nur, dass Russland sie nicht austauschen will", sagt Alexejewytsch. "Das ist keine Antwort für uns."