Angehörige ukrainischer Kriegsgefangener "Das halte ich nur mit Tabletten aus"
Angehörige ukrainischer Kriegsgefangener versammeln sich regelmäßig in Kiew: Doch die Informationen über den Verbleib ihrer Männer, Brüder oder Söhne ist spärlich. Die Ungewissheit lässt die Frauen verzweifeln.
Der Frust ist mit Händen zu greifen in dem brechend vollen Besucherraum des Koordinierungsstabs in Kiew: Dieser besteht unter anderem aus Vertretern des ukrainischen Geheimdienstes, der Armee und des Verteidigungsministerium und ist zuständig für Fragen rund um ukrainische Kriegsgefangene und Zivilisten in russischer Hand. Etwa 20 Frauen und eine Handvoll Männer fixieren an diesem Tag das uniformierte Team, das ihre Fragen beantworten soll, weitere sind online dabei.
"Russland hält sich nicht an die Genfer Konventionen und sie verhandeln nicht, was passiert denn jetzt?", fragt eine Frau mit Ungeduld in der Stimme. Sie und die anderem im Raum sind Angehörige der 23. Brigade und drängen auf Informationen über ihre Männer, Söhne oder Brüder. "Wie verhandelt man mit Leuten, die uns umbringen wollen?", antwortet einer aus dem Team des Koordinierungsstabs mit einer Gegenfrage. Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch seien sehr schwierig und kompliziert, aber man werde nicht aufgeben.
Auch Halyna Balykyna, die mit dem Nachtzug aus der Region Cherson angereist ist, möchte herausfinden, ob es vielleicht etwas Neues gibt. "Leider nicht", sagt sie leise. Sie kommt regelmäßig zum Koordinationsstab in Kiew und hat alle Unterlagen beim Internationalen Roten Kreuz in Genf, beim Roten Kreuz der Ukraine und beim Geheimdienst der Ukraine SBU eingereicht, sagt sie. Sie könne nur warten, mehr nicht.
Geben Sie uns unsere Kinder zurück. Ich habe drei Söhne. Einer ist getötet worden und zwei sind in russischer Gefangenschaft. Ich bin weder lebendig noch tot.
Folter, Schläge, Hunger und Schauprozesse
Ihr ältester Sohn Alexej starb mit 38 Jahren bei den Kämpfen um Mariupol, das weiß Halyna Balykina von einen Anruf seiner Einheit und sie kämpft nun weiter um seine Leiche - um ihn beerdigen zu können. "Das kann man nur mit Tabletten aushalten. Ohne Tabletten geht das nicht."
Halyna Balykyna ist eine erschöpft wirkende Frau mit müden braunen Augen. Selbst der winzigste Hinweis über die beiden jüngeren Söhne Vitalyj und Andryj wäre für sie ein Strohhalm, an den sie sich klammern könnte in ihrem Schmerz.
Sie befürchtet das Schlimmste. Denn Folter, Hunger, Schläge, seelische Qualen, Schauprozesse und Willkür - all dem sind ukrainische Kriegsgefangene und auch Zivilisten in russischer Hand ausgesetzt. Das ist umfassend belegt durch Aussagen bisher ausgetauschter Soldatinnen und Soldaten, Dokumentationen des Menschenrechtsbeauftragten des Parlaments Dmytro Lubinets und des Geheimdienstes. Aber auch regierungsunabhängige Menschenrechtsorganisation listen Beweise auf - darunter das renommierte "Center for Civil Liberties" der Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk.
27 Jahre Freiheitsstrafe in Scheinprozess
"Ich suche meinen Ehemann", sagt Tetyana Lysjura, die an diesem Tag im Koordinierungsstab ebenfalls auf Informationen hofft. Nach dem russischen Angriff auf die Hafenstadt Mariupol kämpfte ihr Ehemann Vitaliy im Asowstal-Werk. Er geriet nur wenige Wochen nach dem Großangriff Moskaus in russische Gefangenschaft. Seitdem habe sie nichts direktes mehr von ihm gehört.
Nur so viel: Offenbar im September 2022 wurde Vitalyj Lysjura in einem Schauprozess wegen Mordes an Zivilisten zu 27 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt - wie es aussieht im russisch besetzten Donezk. Auf einem russischen Propaganda-Telegram-Video gibt er angeblich freiwillig zu, dies auf Befehl des Asow-Regiments getan zu haben. Den Bezug zum angeblich rechtsextremen Asow-Regiment setzt Russland besonders gerne für antiukrainische Propaganda ein.
Tetyana Lysjuras Ehemann wurde in russischer Kriegsgefangenschaft in einem Schauprozess zu 27 Jahren Haft verurteilt.
Tetyana Lysjura hat sich dieses quälende, russische Video zigmal angeschaut und starrt auf ihr Handy: "Ihm fehlt die gesamte obere Zahnreihe. In der Gefangenschaft hat Vitalyj 30 Kilo verloren." Ob das Video vor oder nach der Scheinverhandlung aufgenommen wurde, kann sie nicht herausfinden. Doch ukrainische Psychologen hätten eindeutig festgestellt, dass es unter Zwang aufgenommen worden sei.
Angehörige fordern mehr Druck auf Russland
Angehörige ukrainischer Kriegsgefangener in russischer Hand fordern oft auch öffentlich mehr Druck für deren Freilassung. Kurz vor Weihnachten haben sich wieder Hunderte Menschen auf dem zentralen Maidanplatz in Kiew versammelt. Sie heben Pappschilder mit Namen und blau-gelbe Fahnen mit Fotos und der Brigade ihrer Söhne oder Brüder in die Höhe und fordern in Reden mehr Druck auf Moskau und die Hilfe von Ländern wie Deutschland. Viele der Gefangenen, um die es an diesem Tag geht, gerieten bei der Verteidigung von Mariupol in die Hände Moskaus und Hunderte mussten sich im Mai 2022 der russischen Seite ergeben - auf Befehl von Präsident und Oberbefehlshaber Wolodymyr Selenskyj.
In Kiew fordern Angehörige ukrainischer Kriegsgefangener mehr für die Freilassung ihrer Angehörigen zu tun.
Beruhigungsmittel und Liebe
"Glaube, Hoffnung und Liebe. Das hält uns aufrecht", ruft eine Gruppe von Müttern und Ehefrauen. Sie würden sich auch Sorgen machen, was die Kinder denken würden, da sie ohne Nachricht von ihnen seien. Für sie sei es schwieriger, da sie russischer Propaganda ausgesetzt seien, die ihnen sagen würde, die Ukraine habe sie fallen gelassen und vergessen. Auch diese Frauen erzählen, dass sie regelmäßig zu Psychopharmaka greifen würden. "Wir nehmen Tabletten, wir nehmen Beruhigungsmittel, denn unsere Nerven halten das nicht aus."
Ukrainische Führung soll besser kommunizieren
Vitally Sustrity geriet als Freiwilliger in Mariupol vor mehr als 600 Tagen in Gefangenschaft und soll in der russischen Republik Mordwinien sein, erzählt seine Ehefrau Iryna Samoilenko. Das erfuhr sie von einem Mitgefangenen, der frei kam. Dieser habe erzählt, es gäbe nur 150 Gramm Brot am Tag und ein verletztes Bein ihres Mannes sei dort nicht behandelt worden, so dass es faulte. "Für das neue Jahr habe ich nur einen Wunsch, dass der Austauschprozess beginnt."
Immer wieder erzählen die Frauen, dass sie sich sich im Stich gelassen fühlen - von den Vereinten Nationen und dem Internationalen Kreuz, die fast nie Zugang zu ukrainischen Kriegsgefangenen in russischer Gefangenschaft erhalten. Aber auch von den zuständigen ukrainischen Stellen sind viele enttäuscht. Einige der Frauen erzählen, ihnen sei vermittelt worden, lästig zu sein.
"Die Kommunikation mit Angehörigen könnte besser laufen", gab Präsident Wolodymyr Selenskyj vor Kurzem auf seiner Jahrespressekonferenz zu. Er werde dies an den Menschenrechtsbeauftragten des Parlaments und den Chef des Militärgeheimdienstes weitergeben.
Ich verstehe ihren Schmerz. Der Austausch ist wirklich langsamer geworden, aber das liegt an der Russischen Föderation. Der Kanal wird sich wieder öffnen. Im Moment arbeitet man daran, viele unserer Leute zurückzubringen.
2.600 ukrainische Kriegsgefangene ausgetauscht
Seit dem russischen Großangriff wurden nach Angaben des Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments etwa 2.600 Soldatinnen und Soldaten ausgetauscht. Wie viele sich in russischer Kriegsgefangenschaft befinden, wird nicht offiziell genannt.
Viele Angehörige fahren regelmäßig nach Kiew, klappern ein oder zwei Tage alle zuständigen Stellen ab und reisen dann wieder zurück in die Regionen Cherson, Dnipropetrowsk, Tschernihiw oder nach Wolowets in der Westukraine, wo Tetyana Lysjura nach ihrer Flucht aus dem russisch belagerten Mariupol wohnt. Sie wirkt blass in ihrem hellblauen Wollpullover und hat tiefe Ringe unter den Augen. "Wissen Sie, wovor ich am meisten Angst habe? Dass selbst wenn der Krieg zu Ende ist, die Russen sie einfach trotzdem nicht hergeben."