Ein Monat Ukraine-Krieg "Eklatante Mängel auf taktischer Ebene"
Nach dem Überfall auf die Ukraine vor vier Wochen habe Russland seine militärischen Ziele "in keiner Weise erreicht", sagt der Analyst Gady. Welche Orte für den Kriegsverlauf entscheidend sind - und warum die Kampfkraft der Ukraine schwer zu beurteilen ist.
tagesschau.de: Was hat Russland in vier Wochen in der Ukraine erreicht?
Franz-Stefan Gady: Ganz deutlich ist, dass die russischen Truppen die militärischen Ziele, die am Anfang dieses Krieges gesetzt waren, in keiner Weise erreicht haben. Die Idee, die Regierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu stürzen beziehungsweise einen schnellen Regimewechsel herbeizuführen, war militärisch unrealistisch. Die russische Armee hat über zu viele Achsen angegriffen, die Truppen waren zu zerstreut. Das gesamte Operationskonzept war in den ersten Tagen nur schwer zu verstehen, denn es stand konträr zu ihrer Militärdoktrin.
Die russischen Streitkräfte haben offensichtlich nicht erwartet, dass sie einen hochintensiven Krieg gegen die ukrainischen Streitkräfte führen müssen. Vielmehr hatten sie mit einem Szenario wie in Österreich 1938 gerechnet - eine schnelle Besetzung, damals durch die deutsche Wehrmacht, unterstützt durch die Zustimmung eines großen Teils der Bevölkerung. Stattdessen müssen sie nun einen zermürbenden Kampf führen.
Schlechte Koordinierung, mangelhafte Kommunikation
tagesschau.de: Hat die russische Führung ihre Kriegsziele daraufhin geändert?
Gady: Die russischen Streitkräfte gruppieren sich derzeit neu und adaptieren sich mit neuen Gefechts-Angängen an die einzelnen Fronten. Die einzelnen Armeegruppen, die vorstoßen, sind aber untereinander schlecht koordiniert und können anscheinend nur schwer miteinander durch verschlüsselte Systeme kommunizieren. Es könnte sein, dass Russland versuchen wird, mit einer neuen Offensive so viele Territorien wie möglich zu erobern, um das am Verhandlungstisch einzusetzen.
tagesschau.de: Unterscheiden sich dabei die einzelnen Fronten?
Gady: Im Süden haben die russischen Truppen die meisten Geländegewinne erzielt, hier wurden auch einige ihrer besten Einheiten eingesetzt. Die Ukraine wiederum hat hier relativ wenig Verbände gehabt und sie ins Landesinnere zurückgezogen.
Im Norden war der Aufmarsch stockend, weil vor allem im Nordwesten keine Eisenbahnnetzwerke sind. Der Nachschub musste über Lkw heruntergebracht werden. Deswegen war hier auch zu erwarten, dass es hier zu logistischen Problemen kommen würde. Hier gab es auch einen starken Widerstand.
Vorbild Irak-Krieg?
tagesschau.de: Ist es nicht erstaunlich, dass die russischen Streitkräfte nicht damit gerechnet haben?
Gady: Wenn die russische Armee damit gerechnet hätte, hätte sie vorher verschiedenen Waffensysteme und Plattformen integriert, um bestmöglich ihre Wirkung gegen den Feind zu erzielen und die eigenen Truppen vor Feindwirkung zu schützen. Russlands Vorgehen ähnelt hier auch der riskanten Taktik der US-Armee vor Bagdad 2003, als die US-Armee ungedeckt und ohne Unterstützung tief in den feindlichen Raum vordrang, weil die Moral der gegnerischen Armee schon zerstört war und das Regime nicht von der lokalen Bevölkerung unterstützt wurde. Hier sind auf taktischer Ebene in der russischen Armee eklatante Mängel aufgetreten. Als Militäranalysten haben wir überschätzt, welche Wirkungen die russischen Armeereformen nach dem Georgien-Krieg von 2008 gehabt haben.
Es war davon auszugehen, dass die russischen Truppen früher oder später logistische Probleme bekommen würden, weil die taktischen Bataillonstruppen im Gegensatz zu NATO-Einheiten mehr Logistik benötigen, weil sie mehr Feuerkraft und dadurch mehr Munitionsbedarf haben. Vor allem aber sind die russischen Streitkräfte nicht konzipiert für einen offensiven Krieg mit tiefen Stößen in das Feindesland. Vielmehr sind sie darauf ausgerichtet, einen defensiv-offensiven Krieg auf russischem Boden zu führen, bei dem sie auf das heimische Eisenbahnnetz zurückgreifen können.
Das Problem der Ukraine im Süden
tagesschau.de: Wie wichtig ist der Widerstand in Mariupol für den Kriegsverlauf?
Gady: In den kommenden Tagen wird wichtig sein, wie schnell Mariupol fällt und was im Donbass geschieht. Hier haben die ukrainischen Streitkräfte derzeit ihr größtes operatives Problem, hier könnten sie eingekesselt werden. Es gibt eine Stoßrichtung der russischen Armee südlich von Charkiw und nördlich von Mariupol. Wir wissen nicht, wie viele ukrainische Einheiten sich dort noch befinden. Ursprünglich waren dort neun Brigaden stationiert. Wir wissen viel weniger über die ukrainischen Streitkräfte als über die russischen. Es ist deshalb sehr schwer abzuleiten, wie lange der Krieg noch dauern wird.
tagesschau.de: Was passiert, wenn die ukrainischen Einheiten im Osten eingekesselt werden?
Gady: Wenn diese Einheiten abgeschnitten werden und Mariupol fällt, würde das zusätzliche russische Truppen befreien, die an anderen Fronten eingesetzt oder verschoben werden können, zum Beispiel dann Mykolajiw oder Odessa bedrohen können oder den Belagerungsring um Kiew verstärken können. Wobei ich mir zwar vorstellen kann, dass die Stadt früher oder später umzingelt wird - aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Russen zum jetzigen Stand die Fähigkeit und die Männer haben, diese Stadt im Häuserkampf einzunehmen. Dafür bräuchte es zu viele Angreifer. Man wird stattdessen verstärkt auf den Einsatz von Artillerie setzen und die Stadt beschießen und dadurch der Selenskyj-Regierung vielleicht ein paar politische Konzessionen abringen können.
Wenig Daten über Ukraines Armee
tagesschau.de: Wie lange kann die ukrainische Armee das noch durchhalten?
Gady: Das ist das Problem: Wir wissen nicht, in welchem Zustand die ukrainischen Streitkräfte sind. Deshalb sind alle Analysen mit Vorsicht zu genießen, weil eine große Variable nicht erfassbar ist. Wir wissen, dass die ukrainische Flugabwehr noch intakt ist, wir wissen, dass eine große Anzahl an Verbänden noch einsatzfähig ist, wir wissen, dass sie noch operative Reserven haben. Aber wir haben keine Ahnung, was die Munitionsreserven betrifft, wir wissen nicht, ob der westliche Nachschub auch wirklich im gewünschten Ausmaß ankommt, wir wissen auch nicht, inwiefern sich die Ukrainer zu neuen taktischen Gegebenheiten adaptieren, wir haben ganz wenig Einblick in die Kampfkraft der ukrainischen Luftwaffe.
tagesschau.de: Lassen sich die Verluste abschätzen?
Gady: Wir kennen nicht die Verlustzahlen. Man muss davon ausgehen, dass die ukrainischen Verluste nicht weit unter den russischen liegen - vielleicht etwas geringer, weil sie verteidigen, anstatt angreifen. Aber die Gegenstöße der Ukrainer sind auch für sie kostspielig, weil sie ebensowenig wie die Russen die Integration der verschiedenen Armee-Gattungen beherrschen. Bei einem intensiven Krieg geht die Zahl der Opfer schnell in die Tausende, und das war abzusehen.
Heute sieht es danach aus, als würden wir in eine neue Phase des Abnutzungskrieges gehen, wo sich Frontverläufe nur noch gering verschieben, mehr Städte eingekesselt werden, verstärkt auf Artillerie gesetzt wird und es dadurch zu viel größeren Verlusten kommen kann. Ich glaube nicht, dass die russischen oder ukrainischen Streitkräfte in naher Zukunft kollabieren werden. Das bedeutet aber auch nicht, dass die Ukrainer gewinnen werden. Wir gehen - aus heutiger Datenlage - auf eine Patt-Situation zu.
"Waffenlieferungen aufrecht erhalten"
tagesschau.de: Was soll der Westen nun tun?
Gady: Im Großen und Ganzen ist die Antwort des Westens richtig. Das Wichtigste, was der Westen im Moment tun kann, ist, die Waffenlieferungen aufrecht zu erhalten. Wir müssen gewährleisten, dass die effektivsten Systeme in die Hände der ukrainischen Streitkräfte kommen. Ich halte wenig von Flugverbotszonen, weil es militärisch aus mehreren Gründen keinen Sinn ergibt. Wichtig ist, die Ukraine finanziell zu unterstützen – und etwas für die vielen Flüchtlinge und die Linderung der humanitären Probleme zu tun.
tagesschau.de: Rechnen Sie mit einer Verhandlungslösung?
Gady: Früher oder später wird es eine Verhandlungslösung geben müssen, in der beide Seiten etwas aufgeben. Für Russland und die Ukraine wird es dabei darauf ankommen, ein Narrativ schaffen zu können, in dem beide Seiten etwas gewonnen haben. Ob das einen langfristigen Frieden stiften kann, wage ich zu bezweifeln. Es kann sein, dass es in naher Zukunft wieder zu einem Konflikt kommt.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de