Angriff auf Bahnhof von Kramatorsk Dutzende Flüchtende getötet
Tausende Zivilisten warteten am Bahnhof von Kramatorsk auf ihre Flucht aus der Ostukraine. Dann schlugen zwei Raketen ein. Inzwischen werden 50 Tote gemeldet, es gibt zahlreiche Verletzte. Das internationale Entsetzen ist groß.
Der Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk kam am Vormittag, als sich dort Tausende Menschen aufhielten, die auf eine Evakuierung hofften. Inzwischen wird das Ausmaß der Zerstörung immer deutlicher. Nach offiziellen Angaben stieg die Zahl der Toten auf 50. Darunter seien fünf Kinder, sagte der Gouverneur des Gebiets Donezk, Pawlo Kyrylenko, dem Portal "strana.news" zufolge. Außerdem seien 98 Menschen verletzt worden, davon 16 Kinder.
Bilder zeigen mit Tüchern abgedeckte Getötete auf dem Vorplatz des Bahnhofs, mehrere geparkte Autos sind ausgebrannt.
4000 Menschen sollen am Bahnhof gewesen sein
Etwa 4000 Menschen hätten sich am Bahnhof aufgehalten, sagte Bürgermeister Olexander Hontscharenko. Die meisten von ihnen seien Frauen und Kinder gewesen. Die ukrainischen Behörden hatten angesichts einer erwarteten russischen Offensive die Bevölkerung der Gebiete Donezk und Luhansk zur Flucht aufgerufen. Kramatorsk wird von ukrainischen Truppen kontrolliert, gilt aber als Ziel der Russen.
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen zeigte sich entsetzt. Noch an den Vortagen des Angriffs habe man von dort aus Patienten mit einem Krankentransportzug evakuiert, teilte Ärzte ohne Grenzen in Berlin mit. "Wir sahen hunderte Menschen dicht gedrängt im Bahnhof, die versuchten, zu entkommen", berichtete Nothilfekoordinator Christopher Stokes von vor Ort. Es sei nun zweifelhaft, ob das Hilfswerk für weitere Evakuierungen zurückkehren kann.
Selenskyj: "Ein Übel, das keine Grenzen kennt"
Der ukrainische Gouverneur Kyrylenko warf Russland vor, absichtlich auf Zivilisten gezielt zu haben. "Sie wollten so viele friedliche Menschen wie möglich als Geiseln nehmen, sie wollten alles Ukrainische zerstören", schrieb er bei Telegram.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schrieb bei Instagram: "Da ihnen (Anm. d. Red. den Russen) die Kraft und der Mut fehlen, sich auf dem Schlachtfeld gegen uns zu behaupten, zerstören sie zynisch die Zivilbevölkerung. Dies ist ein Übel, das keine Grenzen kennt. Und wenn es nicht bestraft wird, wird es nie aufhören."
"Diese Leute haben nur darauf gewartet, evakuiert zu werden", sagte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa. Keiner der Toten sei Russe.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Russland weist Anschuldigungen zurück
Der Kreml wies die Verantwortung für den Angriff zurück. "Unsere Streitkräfte nutzen diesen Raketentyp nicht", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow russischen Agenturen zufolge. Er bezog sich dabei auf den mutmaßlich verwendeten Typ Totschka-U. Militärexperten bezweifeln diese Darstellung.
Am Vortag hatten Investigativreporter berichtet, dass die in Belarus stationierten russischen Truppen mehrere Totschka-U erhalten hätten. In einer gemeinsamen Übung von russischen und belarusischen Truppen waren Totschka-U verwendet worden. Die Raketen gelten als weniger zielgenau als die Iskander, die Russland häufig eingesetzt hat. Totschka-U können verbotene Streumunition transportieren - dies sei in Kramatorsk der Fall gewesen, sagen die Ukrainer.
Die Separatisten, die Anspruch auf das gesamte Verwaltungsgebiet Donezk erheben, gaben der Ukraine die Schuld. Sie behaupten immer wieder, ukrainische "Nationalisten" würden die Zivilbevölkerung als Schutzschilde nutzen und deren Evakuierung verhindern. Beweise dafür legen sie nicht vor.
Borrell und Johnson verurteilen Angriff
International löste der Angriff scharfe Reaktionen aus. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell schrieb auf Twitter, es handele sich um einen "weiteren Versuch, die Fluchtwege für diejenigen zu versperren, die vor diesem ungerechtfertigten Krieg fliehen, und menschliches Leid zu verursachen". Er warf Russland vor, mit der willkürlichen Attacke gezielt Menschen leiden zu lassen.
Der britische Premierminister Boris Johnson, sagte, "es ist ein Kriegsverbrechen, wahllos Zivilisten anzugreifen." Großbritannien werde weitere Waffen im Wert von 100 Millionen Pfund (umgerechnet rund 120 Millionen Euro) an die Ukraine schicken, so Johnson bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz in London. Scholz war zu seinem Antrittsbesuch in die britische Hauptstadt gereist. Der britische Premier betonte, dass Deutschland und das Vereinigte Königreich eng zusammenarbeiten, um die Ukraine mit Waffen und weiterer Hilfe zu unterstützen.
Donbass im Fokus
Der Angriff auf Kramatorsk lenkt das Augenmerk noch stärker auf den Donbass. Russland hatte angekündigt, seine Angriffe auf die Region zu konzentrieren und wohl auch deshalb seine Truppen aus der Nordukraine abgezogen. Dort war der Angriff auf Kiew nach Ansicht westlicher Militärexperten gescheitert. Der Kreml nennt den Rückzug hingegen ein "Zeichen des guten Willens", um Vertrauen für Verhandlungen zu schaffen.
Doch die Kämpfe in der Ostukraine gehen weiter. "Wir spüren das Ende der Vorbereitungen für diesen großen Kampf, den wir in den Regionen Luhansk und Donezk haben werden", sagte der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj. Auch die Ukraine verstärkt ihre Stellungen. An der östlichen Front kämpfen seit Kriegsbeginn die erfahrensten Truppen, die in den vergangenen Jahren bereits den Separatisten gegenüberstanden.
Viele Tote in Borodjanka geborgen
Selenskyj geht unterdessen von weiteren Gräueltaten russischer Truppen in der Ukraine aus. In der Kleinstadt Borodjanka bei Kiew, wo Aufräumarbeiten liefen und Rettungskräfte Trümmer beseitigten, sei es "viel schrecklicher" als in Butscha, sagte er in einer Videobotschaft. Konkrete Details nannte er nicht.
In Borodjanka seien allein aus den Trümmern von zwei ausgebombten Wohnhäusern 26 Leichen geborgen worden, erklärte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa. Wie viele Opfer es insgesamt gab, sei derzeit schwer abzuschätzen.
In der ebenfalls lange umkämpften Stadt Tschernihiw sind nach Angaben des Bürgermeisters mittlerweile 700 Menschen getötet worden. Unter den Toten seien sowohl Armeeangehörige als auch Zivilisten, sagte Wladyslaw Atroschenk der Nachrichtenagentur Unian. Zwei Drittel der ehemals 300.000 Einwohner der Stadt nördlich der Hauptstadt Kiew seien geflohen.