Krieg gegen die Ukraine Auch Irpin wirft Russland Kriegsverbrechen vor
Nach Butscha und Mariupol werden auch aus der ukrainischen Stadt Irpin Berichte über mutmaßliche Kriegsverbrechen des russischen Militärs bekannt. Derweil scheint Russland seine Offensive auf den Osten der Ukraine zu konzentrieren.
Nach den grauenvollen Bildern aus dem Kiewer Vorort Butscha gelangen aus immer mehr ukrainischen Orten Berichte über getötete Zivilisten und mögliche Kriegsverbrechen an die Öffentlichkeit.
Die jüngsten Vorwürfe gegen das russische Militär kommen aus Irpin nahe Kiew. Der Bürgermeister der Stadt, Olexander Markuschyn, gab im Gespräch mit der Zeitung "Ukrajinska Prawda" an, russische Soldaten hätten dort Frauen und Kinder von den Männern getrennt und anschließend viele von ihnen getötet:
Diejenigen, die ihnen nicht gefielen - und das sind Fakten, es gibt Zeugen - haben sie erschossen. Diejenigen, die nicht gehorchten, haben sie erschossen.
Die Toten seien dann absichtlich von Panzern überrollt worden, sagte Markuschyn weiter: "Wir haben die Leichen mit Schaufeln vom Asphalt gekratzt."
In Butscha werden immer mehr Opfer gefunden
Am vergangenen Wochenende gingen die Bilder aus Butscha um die Welt: Leichen auf den Straßen, Hinweise auf Folter. Bis Mittwochabend wurden in der Stadt 320 Leichen gefunden, teilte Bürgermeister Anatolij Fedoruk der Deutschen Welle mit. Und die Zahl der Leichen, die entdeckt würden steige mit jedem Tag weiter. "Weil sie auf Privatgrundstücken, in Parks und auf Plätzen gefunden werden, wo es möglich war, die Leichen zu begraben, als es keinen Beschuss gab", sagte Fedoruk. Etwa 90 Prozent der bislang geborgenen getöteten Zivilisten wiesen Schusswunden auf. Die Toten würden nun von Spezialisten untersucht.
Die ukrainische Regierung sieht in den Berichten den Beweis für die gezielte Tötung von Zivilisten und damit für Kriegsverbrechen. Moskau bestreitet das und spricht von "Fälschung" - allerdings ohne Belege dafür vorzulegen.
Zeitungsbericht: Leichen in Hostomel entdeckt
Nun berichtete die Zeitung "Ukrajinska Prawda", dass auch in Hostomel, einem weiteren Vorort von Kiew, mehrere Leichen in einer Garage entdeckt worden seien. Die Zeitung berief sich dabei auf einen Telegram-Eintrag des ehemaligen Innenministers Arsen Awakow. Demnach handele es sich bei den elf Getöteten um Zivilisten. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen.
Seit Kriegsbeginn zählt Hostomel mit seinem nahe gelegenen Flugplatz zu den besonders umkämpften Orten. Der Großteil der dort lebenden Bevölkerung floh. Der lokalen Militärverwaltung zufolge werden rund 400 Bewohner von Hostomel vermisst.
Zahlreiche Todesopfer in Borodjanska befürchtet
In Borodjanska, einer etwa 35 Kilometer von Kiew entfernten Siedlung, konnte der Zivilschutz am Mittwoch mit der Suche nach möglichen Todesopfern beginnen. Zuvor musste der Ort demnach erst von Minen befreit werden. Dem ukrainischen Innenminister Denys Monastyrskyj zufolge ist Borodjanska "eine der am stärksten zerstörten Städte in der Region Kiew".
Einwohner der Stadt hätten berichtet, dass russische Truppen in den ersten Kriegstagen aus geringer Höhe mit Flugzeugen Raketen auf ihre Häuser abgeworfen hätten, hieß es von Monastyrskyj weiter. Nun sei zu befürchten, dass Menschen, die unter Trümmern verschüttet wurden, nicht mehr am Leben seien. Auch Rettungskräfte seien beschossen worden und hätten deshalb vorerst ihre Arbeit einstellen müssen. Auch diese Angaben ließen sich zunächst nicht überprüfen.
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft befürchtet, dass es in Borodjanka die meisten Opfer in der Region Kiew geben könnte. Bislang haben die Behörden aber noch keine Opferzahlen für den Ort bekannt gegeben.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
G7 für Ausschluss Russlands aus UN-Menschenrechtsrat
Als Konsequenz der Gräueltaten in der Ukraine wollen sich die G7-Staaten dafür einsetzen, dass Russland aus dem UN-Menschenrechtsrat ausgeschlossen wird. "Wir sind überzeugt, dass es jetzt an der Zeit ist, die Mitgliedschaft Russlands im Menschenrechtsrat auszusetzen", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Die UN-Vollversammlung sollte im Laufe des Tages über einen solchen Schritt abstimmen.
Mehrere westliche Staaten, darunter auch Deutschland, haben zudem angekündigt, Beweise zusammentragen zu wollen, um die mutmaßlichen Kriegsverbrechen Russlands vor Gericht zu bringen.
Berichte über mobile Krematorien
Der Bürgermeister der besonders hart umkämpften Hafenstadt Mariupol erhob drastische Vorwürfe gegen das russische Militär. Er warf Russland vor, zur Vertuschung von Kriegsverbrechen Leichen in mobilen Krematorien zu verbrennen. So sollten Spuren verwischt werden, erklärte die Stadtverwaltung auf Telegram. "Das ist ein neues Auschwitz und Majdanek", wurde Bürgermeister Wadym Bojtschenko zitiert. Belege für seine Behauptung legte er allerdings nicht vor.
Meldungen aus Mariupol können seit Wochen kaum unabhängig überprüft werden, auch weil internationale Medien vor Ort nicht mehr arbeiten können. Schon früher hatten ukrainische Behörden und Medien mehrfach berichtet, russische Einheiten nutzten mobile Krematorien. Damals hieß es allerdings, diese würden eingesetzt, um die Leichen eigener Soldaten zu verbrennen, um die Zahlen getöteter eigener Soldaten zu vertuschen.
Selenskyj fordert weiteres "schmerzhaftes Sanktionspaket"
Angesichts der Berichte über solche Gräueltaten drängte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj weiter auf ein entschiedenes Handeln des Westens. Die bislang von westlichen Staaten verhängten Sanktionen gegen Russland seien zwar "eindrucksvoll", dennoch reichten sie nicht aus, betonte Selenskyj in einer Videoansprache, die in der Nacht über Telegram veröffentlicht wurde. Doch es brauche ein weiteres "wirklich schmerzhaftes Sanktionspaket". Er forderte neben einem Kohle- auch ein Öl-Embargo gegen Russland.
Auch Selenskyj sprach in seiner Rede erneut von Kriegsverbrechen, die Russland begehen würde. Das russische Militär wolle seine Taten vertuschen, indem es versuche, "die toten Menschen, die toten Ukrainer, aus den Straßen und Kellern der von ihnen besetzten Gebiete zu entfernen". Außerdem würden in der Ukraine Tausende Menschen vermisst, die entweder nach Russland verschleppt oder getötet worden seien. Der ukrainische Präsident appellierte in diesem Zusammenhang an die russische Bevölkerung:
Wenn Sie sich auch nur ein bisschen dafür schämen, was das russische Militär in der Ukraine tut, dann ist dies für die russischen Bürger ein Schlüsselmoment: Sie müssen ein Ende des Krieges fordern.
Russland setzt Angriffe fort
Sowohl die Ukraine als auch der Westen befürchten zudem, dass Russland nach dem Rückzug seiner Truppen aus dem Norden des Landes seine Offensive nun auf den Osten und Süden der Ukraine konzentrieren will. Olexij Arestowytsch, Berater von Präsident Selenskyj, gab im Fernsehen ebenfalls an, dass sich die Attacken Russlands nun vor allem auf den Osten der Ukraine konzentrierten. Russische Truppen würden versuchen, die ukrainischen Streitkräfte in der Region einzukreisen.
Auch das britische Verteidigungsministerium in London erklärte, das russische Militär konzentriere sich derzeit ganz auf die Fortsetzung seiner Operationen in der Ostukraine. Das Hauptaugenmerk liege dabei auf dem Gebiet zwischen dem ukrainisch kontrollierten Territorium im Donbass und den Regionen Luhansk und Donezk, die von Separatisten gehalten werden. Dafür greife das russische Militär vorrangig Ziele der Infrastruktur an, um den Nachschub für die ukrainischen Truppen zu beeinträchtigen und den Druck auf die Regierung in Kiew zu erhöhen.
Russland meldet Angriffe auf Militäreinrichtungen
Aus Moskau hieß es, die eigenen Truppen hätten ihre Angriffe am Donnerstag fortgesetzt und 29 Militärobjekte bombardiert. Dabei seien Luftabwehrsysteme, Artilleriegeschütze, mehrere Kommando-Stützpunkte der ukrainischen Streitkräfte sowie Munitions- und Treibstofflager vernichtet worden, teilte der russische Militärsprecher Igor Konaschenkow mit. Eine Fregatte der russischen Schwarzmeerflotte habe "eine Salve mit vier ballistischen Raketen vom Typ Kalibr auf Bodenziele auf dem Territorium der Ukraine abgegeben". Kalibr ist ein modernes russisches Lenkwaffensystem, mit dem die russische Flotte seit 2011 ausgestattet wird.
Vonseiten der prorussischen Separatisten in Donezk hieß es, dass mithilfe russischer Truppen weitestgehend die Kontrolle über das Stadtzentrum von Mariupol erlangt werden könnte. "Man kann sagen, dass im zentralen Teil der Stadt die Hauptkämpfe beendet sind", hieß es von Separatisten-Sprecher Eduard Bassurin. Nun werde vor allem im Hafen der Metropole sowie am Stahlwerk Asow-Stahl gekämpft. Bassurins Angaben zufolge sollen sich noch rund 3000 ukrainische Soldaten in Mariupol aufhalten.
Die Ukraine jedoch widersprach diesen Aussagen: Präsidentenberater Arestowytsch betonte: "Mariupol hält sich."
Charkiwer Bürgermeister: Evakuierung der Stadt nicht notwendig
Am Mittwoch hatte die stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, Iryna Wereschtschuk, die Bevölkerung in den gefährdeten Gebieten der Ostukraine dazu aufgerufen, diese zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen.
Der Bürgermeister von Charkiw versuchte nach diesem Appel jedoch zu beruhigen. Weder er noch das Militär hielten es momentan für notwendig, in Charkiw eine großangelegte Evakuierung vorzunehmen, sagte Ihor Terechow in einer Videobotschaft. Die Stadt sei gut mit Waffen ausgestattet und zur Verteidigung bereit. Anders sei allerdings die Lage in den Bezirken Losowa und Barwinkowe, die zum Gebiet Charkiw gehören und in der Nähe des Donbass liegen. Dort erwartet das ukrainische Militär eine Zuspitzung der Situation.
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
Zehn Fluchtkorridore geplant
Im Laufe des Tages soll in der Ukraine über insgesamt zehn Fluchtkorridore versucht werden, Menschen aus stark umkämpften Regionen in Sicherheit zu bringen, kündigte Vize-Ministerpräsidentin Wereschtschuk an. Die Bevölkerung der Hafenstadt Mariupol, wo die Versorgungslage besonders katastrophal ist, müssten aber ihre eigenen Fahrzeuge nutzen. In der Vergangenheit sind wiederholt Evakuierungen gescheitert, weil geplante Feuerpausen nicht eingehalten oder Konvois an der Weiterfahrt gehindert wurden.