Zehn Jahre Maidan-Revolution Wie die Ukraine ihre Orientierung fand
Vor zehn Jahren begannen auf dem Kiewer Maidan Demonstrationen für eine engere Anbindung an die EU. Für viele Ukrainer hat der Protest das Land für immer verändert - nicht nur mit Blick auf Russland.
Oleksandr Kowaljonok lässt seinen Blick über den Unabhängigkeitsplatz in Kiew schweifen. "Hier hat für mich vor zehn Jahren der Krieg begonnen", sagt der 31-jährige PR-Berater. Seitdem sei in seinem Leben nichts mehr, wie es einmal war. "Der Sommer 2013 war der schönste, den ich hatte." Dann sei er erwachsen geworden, sagt Kowaljonok.
Das erste Mal Angst vor den Sicherheitsdiensten hatte Kowaljonok auf dem Maidan. Und auf dem Maidan habe er auch das erste Mal in seinem Leben Menschen gesehen mit von Granaten zerfetzten Händen.
Vor zehn Jahren gehörte der damals 21-Jährige zu der Gruppe Studierender, die die Revolution auslösten. Er war wütend, dass der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch das lange geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterschreiben wollte.
Doch er ahnte nicht, dass die zunächst friedlichen Demonstrationen in brutale Straßenschlachten ausarten sollten. Die Ukraine veränderte sich in der Folge für immer.
Eine "Revolution der Würde"
Auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan seien neue Werte geschaffen worden, sagt die Kulturwissenschaftlerin Natalia Kryvda. Nicht ohne Grund bezeichnen die Menschen in der Ukraine die Proteste von damals heute als "Revolution der Würde".
Was als Protest für die Annäherung an die EU begann, wurde schnell zu einem Protest für Bürgerrechte, Demokratie und gegen Korruption.
"Wir begannen damals als Bürger für uns selbst zu sprechen", erinnert sich Ostap Stasiw. Monatelang harrte der Aktivist zusammen mit zehntausenden Menschen bei bitterkalten Temperaturen in Zelten auf dem Unabhängigkeitsplatz aus, Tag und Nacht. Sie mischten Molotow-Cocktails, bauten Barrikaden und eine Bühne für politische Reden.
Viele Tote - und ein zerrissenes Land
Mit den Wochen wuchs die Brutalität der Sicherheitskräfte. Mit Schildern, Stöcken und Bauarbeiterhelmen versuchten sich die Protestierenden zu schützen. Dann besorgten einige wenige auch Schusswaffen. Die Proteste radikalisierten sich.
Am Ende schossen Scharfschützen der Sicherheitsdienste auf Unbewaffnete. Mehr als 100 Menschen wurden getötet, der korrupte Präsident floh 2014 nach Russland. Und Russland wiederum nutzte die Gunst der Stunde und schickte Spezialeinheiten auf die Halbinsel Krim. Im Osten der Ukraine begann der Krieg.
Zu radikal und zu nationalistisch?
Von dort beobachtet Enrique Menendes die Ereignisse. Er hält nicht viel von den Protestierenden auf dem Maidan. Zu radikal, zu nationalistisch, meint er.
Für viele Menschen in der Ukraine ist er heute eine Art Verräter. "Dabei musste ich aus Donezk fliehen, weil ich mich für die Einheit der Ukraine eingesetzt habe", erzählt er in einem Café in Kiew.
Menendes macht auch der ukrainischen Führung Vorwürfe. Man hätte mehr unternehmen sollen, um den Krieg zu verhindern, meint er. Jetzt aber würden nur Waffen aus dem Westen noch helfen. "Wir müssen uns verteidigen."
Auf dem zentralen Platz in Kiew errichteten Demonstranten im Winter 2013 Barrikaden. Der Platz bekam damals den inoffiziellen Titel "Euro-Maidan".
Nichts ist mehr wie vorher
"Vor 2014 hat niemand russische Denkmäler abgerissen. Kiew war eine russischsprachige Stadt. Ich selbst habe russisch gesprochen", sagt PR-Berater Kowaljonok. "Aber seit 2014 hasse ich Russland mit ganzem Herzen."
Im Februar 2022 meldet er sich bei der Armee. Er ist bereit zu kämpfen, obwohl er Angst hat. Mehr als 20 seiner Freunde sind mittlerweile im Krieg getötet worden. Kowaljonok sammelt seit Beginn des russischen Angriffskriegs Spenden für die Armee.
Das Davor und das Danach
Die Maidan-Proteste teilen die jüngere Geschichte der Ukraine in ein Davor und ein Danach. Eine starke Zivilgesellschaft ist entstanden. "Wir sagen Nein, wenn uns etwas nicht gefällt", sagt Mustafa Nayem.
Ihm wird nachgesagt, die Proteste vor zehn Jahren mit einem Post auf Facebook ausgelöst zu haben. Damals arbeitete Nayem noch als Journalist, später sitzt er im ukrainischen Parlament. Heute arbeitet er am Wiederaufbau des Landes.
Das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern sei heute ein anderes, meint Nayem. Kulturwissenschaftlerin Natalia Kryvda spricht von einem kulturellen Wandel. Der Maidan markiere die "Abkehr vom sowjetischem System, vom Totalitarismus".
Ein anderes Land
Aber das Land hat in den vergangenen zehn Jahren nicht nur einen kulturellen Wandel erlebt. Viele Reformen wurden angeschoben. Besonders der Kampf gegen die Korruption ist der Bevölkerung wichtig.
Früher hätten Beamte den Staat ausrauben können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Aber heute veröffentlichen Journalisten und Aktivisten regelmäßig Korruptionsskandale, was ein gutes Zeichen sei, meinen viele.
Er habe sich damals einen noch stärkeren Kampf gegen die Korruption gewünscht, sagt Mustafa Nayem heute. Doch trotz weiterhin großer Probleme hat sich die Situation in vielen Bereichen massiv verbessert.
Grund dafür ist auch die starke Zivilgesellschaft. Ihr Mündigkeit wollen die Ukrainerinnen und Ukrainer nie wieder verlieren, sagen viele.
Stattdessen müsse jede Regierung den Druck von der Straße fürchten. Auch das ist ein Vermächtnis der blutigen Proteste, die vor zehn Jahren in Kiew begonnen haben.