Jährlicher Flashmob Diktat zur Feier der ukrainischen Sprache
Seit mehr als 20 Jahren feiern viele Ukrainer überall auf der Welt einmal im Jahr mit einem gemeinsamen Diktat ihre Sprache. Die Aktion bekommt seit dem russischen Angriffskrieg eine besondere Bedeutung.
Punkt 11 Uhr startet die Sendung zum größten ukrainischen Flashmob. Gleich greifen Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer auf der ganzen Welt zum Stift und schreiben ein Diktat. Es wird im Radio, Fernsehen und per Livestream im Internet vorgelesen.
Tetiana Resnikowa und ihre Kollegen machen in diesem Jahr zum ersten Mal mit: "Seit dem Krieg hat sich einiges verändert. Privat und auf der Arbeit wechsele ich mehr und mehr ins Ukrainische - in unserer Kommunikation und im Arbeitsprozess", erzählt sie. "Wir wollen unsere Sprache verbessern und es ist auch interessant."
Tetiana leitet ein Buchhaltungsbüro in Kiew. Zuhause mit ihrer Familie hat sie früher überwiegend Russisch gesprochen: "Aber jetzt, vielleicht vor einem Jahr oder vor einem halben Jahr, sind wir in der Familie allmählich zum Ukrainischen übergegangen." Früher habe sie immer auf Russisch geantwortet, wenn sie jemand in der Sprache angesprochen hat. "Und jetzt schreibe ich auch auf Ukrainisch. Wer mich nicht versteht, kann ja nachfragen. Außer im Geschäftsleben: Wenn mich da jemand auf Russisch anspricht, dann antworte ich natürlich auch Russisch."
Svitlana Parischska sitzt vor dem Blatt, auf dem sie das Ukrainisch-Diktat schreibt.
Textliche Liebeserklärung an die Ukraine
Tetianas Kollegin Svitlana Parischska hat sich für das Radiodiktat in Schale geworfen. Sie trägt die ukrainische Wyschywanka, eine traditionelle mit Mustern bestickte Bluse. Ursprünglich stammt Svitlana von der Halbinsel Krim, die 2014 von Russland annektiert wurde. Seit einem Jahr ist sie in Kiew. "2014 wurde ich von der ukrainischen Sprache 'befreit'. Die Russen wollten mich so sehr 'befreien', dass ich Russisch spreche. Aber jetzt bin ich hier und schreibe einen ukrainischen Text."
Und dann ist es soweit. Tetiana und Svitlana haben sich mit ein paar Blättern Papier hinter ihre Schreibtische gesetzt und lauschen den ersten Worten des Radiodiktats.
"Die Straßen der Ukraine sind verschlungene Fäden der Liebe. Der erste warme Wind trifft die Isjum-Autobahn mit ihrer schlaflosen Bewegung. In einem zerstörten Dorf in der Nähe ist Frühling" - der Text ist eine Liebeserklärung an die Ukraine. An ein Land, wo vielerorts Zerstörung und doch auch Hoffnung ist und Menschen sich zu Hause fühlen. Geschrieben hat ihn eine in der Ukraine bekannte Schriftstellerin.
"Ein vereinigendes Ereignis"
Das Radiodiktat gibt es schon seit 2000, es findet jedes Jahr anlässlich des Tages der ukrainischen Schrift und Sprache statt. Nun in Zeiten des Krieges bekommt die Aktion eine besondere Bedeutung, erzählt Julia Scheludko vom Ukrainischen Radio. Sie organisiert das Diktat.
"Es ist weniger ein Test der eigenen Schreibfähigkeit, als ein vereinigendes Erlebnis. Menschen in der Ukraine, im Ausland, an der Front und an jedem erdenklichen Ort machen mit", erklärt Scheludko. Man schreibe, um sich zu vereinen. "Das gibt vielen Energie und ist wichtig."
Menschen, die durch den Krieg in die ganze Welt verstreut wurden, schickten Fotos, von wo aus sie das Diktat schreiben. Auch Bewohner in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine nähmen teil, erzählt Scheludko weiter. "Vergangenes Jahr hatten wir eine Gewinnerin aus Donezk. Leider konnte ich ihr den Preis nicht zuschicken. Ein Buch, eine Urkunde und ein Souvenir."
Rückkehr zu den Wurzeln
Im vergangenen Jahr hatte die Filmregisseurin und Schriftstellerin Iryna Zilyk den Text für das Diktat geschrieben. Die 42-Jährige ist zunächst mit Russisch groß geworden und entdeckte erst später die ukrainische Sprache für sich. "Diese Rückkehr zu uns selbst ist sehr wichtig." Um sich herum sehe sie so viele Menschen, ältere und jüngere, die bewusst auf die ukrainische Sprache umsteigen. "Und es ist ziemlich interessant zu beobachten, wie wir nach und nach zu etwas zurückkehren, das uns irgendwann genommen wurde."
Tetiana und ihre Kollegin Svitlana haben im Büro mittlerweile fast zwei Seiten vollgeschrieben, das Radiodiktat ist zu Ende. "Das war schwierig. Ganz schön schnell. Und dann noch die Zeichensetzung", ziehen die beiden Bilanz. Ihren Text schicken sie nun per E-Mail an den Radiosender. Die Diktate mit den wenigsten Fehlern bekommen einen Preis.