Russischer Angriff auf Trauergesellschaft Die dunkle Wolke des Verrats
Anfang Oktober war eine Trauergesellschaft im ostukrainischen Dorf Hrosa bei einem russischen Raketenangriff getötet worden - 59 Menschen starben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun: Ermöglichten Kollaborateure den Angriff?
Die Kreuze auf den vielen frischen Gräber des kleinen Friedhofs am Rand von Hrosa in der Region Charkiw haben alle das gleiche Todesdatum: den 5. Oktober 2023. An diesem Tag löschte eine russische Rakete mit tödlicher Präzision 59 Leben aus.
Die Menschen hatten sich zuvor auf dem Friedhof versammelt, um Andryj Kosyr zu bestatten. Den gefallenen Soldaten, der an diesem Herbsttag in seinen Heimatort Hrosa umgebettet wurde.
Beerdigungsgesellschaft ausgelöscht
Sein Grab ist überhäuft mit bunten Kunstblumen und Kränzen, mitgebracht von Menschen, die wenig später selbst getötet wurden. Einige hundert Meter weiter liegt der Einschlagsort. Das kleine Café, in dem sich die Beerdigungsgesellschaft zum Essen versammelte, das 59 Menschen nicht überleben sollten.
Dorfbewohner Ivan Chodak hat tiefe Augenringe und möchte am liebsten alle zum Teufel jagen - lässt sich dann aber doch auf ein Gespräch ein. "Wir sind am Ende", so der 66-Jährige. Dass er nach der Beerdigung direkt nach Hause ging, rettete sein Leben. "Ich kannte alle. Auch acht Verwandte von mir sind getötet worden." Alle Menschen, die für Hrosa wichtig waren, seien tot. In seiner Straße seien nur vier Menschen übrig.
Das Café, in dem sich die Beerdigungsgesellschaft zum Essen versammelte, wurde bei dem Raketenangriff komplett zerstört.
Staatsanwaltschaft verdächtigt Ukrainer der Kollaboration
Als wäre dieses Trauma nicht genug, hat sich noch ein Verdacht ins Dorf geschlichen: der Verdacht des Verrats. Zwei ukrainische Brüder aus der Gegend sollen die Beerdigung bei mutmaßlich ahnungslosen Dorfbewohnern akribisch für die russische Seite ausgekundschaftet haben, so die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
Die beiden Verdächtigen seien ukrainische Polizisten, die Russland unterstützen sollen. Schon als das Dorf Hrosa von Februar bis September 2022 russisch besetzt war, hätten die Brüder mit den Besatzern kooperiert. Zum Beispiel Ukrainer verhört oder an russischen Checkpoints patrouilliert, sagt Dmytro Tschubenko, der Sprecher der Staatsanwaltschaft der Region Charkiw.
Er würde lieber russische Kriegsverbrechen dokumentieren, aber Kollaborateure müssten gefunden werden, sagt der Staatsanwaltschaftssprecher Dmytro Tschubenko.
Informationen für den russischen Geheimdienst
Als die ukrainische Armee näher gerückt sei, hätten sich die mutmaßlichen Kollaborateure nach Russland abgesetzt und seien nun in der russischen Region Belgorod, von wo aus sie ihre Aktivitäten koordiniert hätten. "Die Verdächtigen haben mit Dorfbewohnern kommuniziert und Informationen an russische FSB-Geheimdienstmitarbeiter weitergegeben, um den Raketenangriff zu starten. Sie wollten einfach Menschen vernichten", sagt Tschubenko.
Über konkrete Ziele der beiden Verdächtigen könne er nichts sagen, denn sie seien in Russland und würden dort vermutlich bleiben. Nach jetzigem Ermittlungsstand werde es wohl ein Verfahren in Abwesenheit geben.
"Bei uns gab es Kollaborateure"
"Bei uns gab es Kollaborateure, die den Russen geholfen haben", erzählt Valentina Kosijenko, deren bescheidenes Haus direkt gegenüber der Angriffsstelle steht. Während ihre Enten durch den Hof watscheln, zeigt die alte Dame auf den Holzhaufen, der einmal ihre geliebte Gartenlaube war. Auch das Dach und ein paar Fenster gingen kaputt.
Sie zieht ihre blaue Strickmütze zurecht und wischt sich die Tränen aus den Augen. "Ich stehe immer noch unter Schock und habe die vielen Leichen vor Augen, die hier lagen. Ich habe Angst aus dem Haus zu gehen in der Nacht und schaue nicht mal aus dem Fenster", sagt Kosijenko.
Sie sehe immer noch die vielen Leichen vor sich: Valentina Kosijenko wohnt direkt gegenüber der Einschlagsstelle. Bei ihr sind Fenster und das Dach zerstört worden.
"Die Hälfte orientiert sich nach Russland"
Auch Vasyl Pletinka sieht die Zukunft des kleinen Dorfes düster. Die Jungen seien in der Armee, die Reichen im Ausland, die Verräter nach Russland geflohen, und in Hrosa würden nur noch Rentner leben, schnauft er ärgerlich, während er in seinem Hinterhof Fische ausnimmt.
Die Hälfte der Gebliebenen orientiere sich nach Russland, weil Gas und Strom dort angeblich nichts kosten würden. "Ich mag Russland überhaupt nicht. Wo Russland ist, da ist Krieg. Syrien, Bergkarabach, Tschetschenien, Afghanistan - überall war Russland dabei", sagt Pletinka.
"Vor allem Polizisten wechselten die Seiten"
Ein Stück weiter sitzt Antonina Romanivna in der schmalen Küche ihres grünen Holzhauses. Die aufgeschlossene alte Dame hat von den beiden Polizisten gehört, die die Russen vor dem Angriff informiert haben sollen.
Sie sagt über die Zeit der russischen Besatzung von Hrosa: "Vor allem unsere Polizisten sind auf die russische Seite gegangen und haben dann die eigenen Leute geschlagen. Wer gegen die Russen war, wurde geschlagen und eingesperrt, aber unsere Ukrainer haben die russischen Panzer später zerquetscht."
Antonina Romanivna lächelt zufrieden, wenn sie an die Befreiung durch die ukrainische Armee denkt, denn auch ihr Enkel sei von den russischen Besatzern misshandelt worden. Trotz des traumatischen russischen Angriffs am 5. Oktober wirkt sie ruhiger als andere Dorfbewohner, Angst habe sie nicht. "Wer sollte mir etwas tun wollen? Außerdem wohnen bei mir ukrainische Soldaten mit Maschinengewehren."
Rund 2.000 Ermittlungen wegen Kollaboration
Nach Angaben der regionalen Staatsanwaltschaft gibt es in der Region Charkiw etwa 2.000 Ermittlungen wegen mutmaßlicher Kollaboration. Ein Teil der Menschen sei für ukrainische Strafverfolgungsbehörden nicht greifbar, sie hätten sich nach Russland abgesetzt, seien im europäischen Ausland oder würden sich in der Ukraine verstecken.
In 300 Fällen seien Menschen wegen Kollaboration zu Freiheits- oder Bewährungsstrafen verurteilt worden, so Tschubenko von der Staatsanwaltschaft. Diese Menschen hätten in russischen Besatzungsverwaltungen gearbeitet oder den Besatzungstruppen geholfen. Sie hätten sie verpflegt, aus eigener Initiative Unterkunft gewährt oder anderweitig unterstützt.
"Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn ich an die Zahl der Kollaborateure denke", sagt Jurist Tschubenko. Sie seien für das Image der Ukraine schlecht, doch solche Menschen gäbe es leider überall. "Ich würde lieber russische Kriegsverbrechen dokumentieren, aber wir müssen leider auch unsere Verräter identifizieren. Das ist eine Aufgabe, die erledigt werden muss."