Häftlinge melden sich zur Armee Vom Gefängnis an die ukrainische Front
Der Bedarf an Soldaten in der ukrainischen Armee ist groß. Seit Anfang Mai können auch Häftlinge einen Antrag auf Mobilisierung stellen. Doch nicht alle haben die nötigen Voraussetzungen - oder den Willen.
Hofgang in einem ukrainischen Gefängnis, das nicht genannt werden darf: Unter Bewachung geht eine Gruppe Männer die hohen grauen Mauern mit Stacheldraht entlang. Einige könnten die beige Gefängniskleidung bald gegen eine Uniform tauschen. Anfang Mai hat das ukrainische Parlament ein neues Mobilisierungsgesetz beschlossen, welches Verurteilten ermöglicht, aus dem Gefängnis heraus einen Antrag auf den Dienst in der Armee zu stellen.
Häftling Wladmir Baran findet das gut und hätte auch keine Angst vor Ablehnung durch andere Soldaten: "Das ist ein gutes Gesetz, denn alle Ukrainer sollte unser Land verteidigen", sagt er. Sein Mitgefangener Oleh Omeltjuk formuliert es deutlich nüchterner: "Das ist vor allem eine Chance hier rauszukommen."
Verurteilte müssen Bedingungen erfüllen
Eine Möglichkeit, die aber nicht jeder der rund 65.000 Männer nutzen kann, die nach Angaben der ukrainischen Strafverfolgungsbehörden zurzeit eine Freiheitsstrafe verbüßen. Wollen Verurteilte von ihrer Zelle aus freiwillig in den Schützengraben, müssen sie eine Reihe an Bedingungen erfüllen. Die verhängte Strafe darf nicht länger als drei Jahre sein. Verurteilte Kriegsverbrecher, Mörder und Sexualstraftäter kommen nicht in Frage. Und auch wer wegen Terrorismus, Verstößen gegen die Nationale Sicherheit, Kollaboration oder versuchten Mordes an Polizisten oder Armeeangehörigen hinter Gittern sitzt, muss weiter dort bleiben.
Dabei betont Oleh Tsvily, Leiter einer NGO die sich für die Rechte von Häftlingen einsetzt, dass es für die wenigsten darum geht, aus dem Gefängnis zu kommen. Ihre Hauptmotivation sei, die Ukraine gegen den russischen Angreifer zu verteidigen. Die meisten hätten bereits in den ersten Tagen der russischen Invasion Anträge auf Amnestie gestellt, so Tsvily im ukrainischen Sender Suspilne. Dies sei ihnen verwehrt worden.
Nach ihrer Freilassung seien sie dann zur Armee gegangen und kämpften jetzt noch, wobei viele auch gestorben seien. Gerade damit bewiesen sie, dass die Freiheit für sie nicht das Wichtigste sei.
Ein Gericht entscheidet über Häftlingsanträge für die Armee
Ob ein Häftling in die ukrainische Armee eintreten darf, entscheidet ein Gericht, das die Strafe nicht erlässt, sondern auf Bewährung aussetzt. Das Militär sei jedoch nicht daran gebunden, die Ex-Häftlinge auszunehmen - das würden auch nicht alle Kommandeure wollen, sagte der ukrainische Justizminister Denys Maljuska vor Kurzem im ukrainischen Fernsehen.
Kommandeur Ivan Burjak von der 93. Mechanisierten Brigade gehört nicht dazu. Dem Fernsehsender Suspilne sagte er: "Ich glaube, dass jeder Mensch die Chance bekommen sollte, sich zu korrigieren." Jeder mache im Leben so einige Fehler. "Wenn jemand diesen Fehler zugibt, zeigt das bereits, dass er darüber nachgedacht hat. Fehler zu korrigieren, auch indem man sogar sein eigenes Blut vergießt, finde ich auf jeden Fall gut."
Ukraine kann zu wenig Freiwillige mobilisieren
Zumal viele Männer in der Ukraine immer weniger Lust verspüren, in der Armee zu kämpfen und erschöpfte und oft mehrfach verwundete Soldaten abzulösen, die zum Teil seit mehr als zwei Jahren im Einsatz sind.
Der Unwille zur Mobilisierung hat mehrere Gründe: Die vom Staat nicht geregelte Demobilisierung, fehlende Waffen und schlagkräftige Ausrüstung an der Front, Korruptionsfälle in der Armee oder schlicht die Angst vor Tod, Verwundung oder Verstümmelung. Von den bis zu 20.000 Häftlingen, die mobilisiert werden könnten, haben laut Justizministerium bisher 3.000 einen entsprechenden Antrag gestellt. Gefängnismitarbeiter Oleksandr überrascht das nicht: "Eine große Anzahl von Verurteilten möchte in die Armee", sagt er.
Erste Anträge bearbeitet
Es gibt aber auch Bedenken. Die Mobilisierung von Verurteilten sei eine komplexe Sache, erklärte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Einerseits könne sie bei einer Resozialisierung helfen, andererseits bestünde die Gefahr, dass die Rechte von Ex-Häftlingen unter den gegebenen Umständen verletzt und diese als menschliches Material gesehen werden.
Ein Gericht in der Stadt Chmelnizkyj entschied nun zum ersten Mal über die Anträge zweier verurteilter Diebe, die jetzt in der Nationalgarde kämpfen können. Sie hätten die gesundheitlichen und psychologische Tests bestanden und seien körperlich fit, hieß es in einer Erklärung des Gerichts.
Auch Häftling Mykola Rybalko möchte zur Armee, auf diesem oder einem anderen Weg: "Ich habe ohnehin keine andere Möglichkeit. Entweder kann ich vom Gefängnis aus mobilisiert werden oder nach meiner Freilassung."