Debatte über Mobilisierung Ukrainische Armee will viel mehr Männer einziehen
Ein Ende des russischen Angriffskriegs ist nicht in Sicht, viele Soldaten sind schon fast zwei Jahre im Einsatz: Kiew will daher 500.000 weitere Männer einziehen. Bei Verstößen drohen zudem härtere Strafen.
In Tscherkassy rund 200 Kilometer südlich von Kiew sind vor kurzem 190 Bäume gepflanzt worden. Sie stehen für 190 getötete Soldaten, für die an diesem Tag auch ein Gedenkpark mit einer Fotowand eingeweiht wurde.
Unter den Angehörigen, die gekommen sind, ist auch Ljudmila Kulyk. Sie trauert um ihren Schwager, der Mitte 2022 in der Region Luhansk getötet wurde. "Wir machen hier mit, damit an ihn erinnert wird. Solange dieser Baum lebt, werden wir daran denken. Für uns ist das alles sehr schlimm."
In Tscherkassy sind 190 Bäume gepflanzt worden - zur Erinnerung an 190 getötete Soldaten, für die auch ein Gedenkpark mit einer Fotowand eingeweiht wurde.
500.000 weitere Männer könnten mobilisiert werden
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird dauern, das ist nicht nur Ljudmila Kulyk schmerzhaft bewusst. Doch viele Soldatinnen und Soldaten sind seit dem Beginn der Invasion vor fast zwei Jahren im Einsatz und müde. Die ukrainische Armeeführung möchte bis zu 500.000 mehr Männer mobilisieren können - und Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte dies auf seiner Jahrespressekonferenz im Dezember 2023 eine heikle Frage, auf die die Gesellschaft gute Antworten brauche.
Die Mobilisierung kommt, da ist sich Mariia Zolkina sicher. Sie ist beim Think Tank Ilko Kucheriw zuständig für Konflikt- und Sicherheitsfragen und Stipendiatin der London School of Economics. Selbst wenn die Ukraine nicht versuchen wollte, die russisch besetzten Gebiete zu befreien, sondern nur die derzeitige Demarkationslinie halten wollen würde, ginge das nicht ohne Rotationen und nicht, ohne die derzeitigen Kampfeinheiten zu ersetzen, sagt sie.
Mehr Jahrgänge und härtere Strafen
Die ukrainische Regierung von Ministerpräsident Denis Schmyhal hat Gesetzentwürfe eingebracht, die es ermöglichen sollen, deutlich mehr Ukrainer zu mobilisieren. Der verpflichtende Eintrag für alle Wehrpflichtigen in das Wehrregister wurde vom Parlament bereits beschlossen. Über eine Neuauflage des Mobilisierungsgesetzes will die Werchowna Rada demnächst entscheiden.
Den ersten Entwurf der Regierung hat das Parlament abgelehnt. Dieser sieht unter anderem vor, dass alle Männer ab 18 Jahren einen militärischen Grundwehrdienst absolvieren müssen. Sie sollen mit 25 statt 27 Jahren eingezogen werden, so würden zwei weitere Jahrgänge und damit mehrere 100.000 Männer mehr erfasst. Der Armeedienst soll drei Jahre dauern, mit Anspruch auf verlässliche Rotation und Urlaub.
Wehrpflichtige müssen sich innerhalb bestimmter Fristen bei den Militärkommissariaten registrieren. Bestehende Geld- und Freiheitsstrafen bei Verstößen werden verschärft - auch gegenüber wehrpflichtigen Ukrainern, die sich im Ausland der Armee entziehen. Anders als bisher sollen Musterungs- oder Einberufungsbescheide auch elektronisch verschickt werden dürfen und damit unabhängig vom Wohnort.
Im Kriegsrecht kein Recht auf Verweigerung
In der Ukraine gibt es zurzeit kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Vor dem russischen Großangriff konnten Männer den Dienst an der Waffe zumindest aus religiösen Gründen verweigern, jedoch nur als Angehörige kleiner religiöser Gruppen in der Ukraine. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nur unter bestimmten Voraussetzungen verlassen.
Seit dem 24. Februar 2022 haben sich nach Angaben der ukrainischen Grenztruppen viele Ukrainer ins Ausland entzogen. Alleine im Jahr 2023 waren es mehr als 10.000. Oleh Kuschnir aus Kiew hat für diese Männer absolut kein Verständnis, Zwang ausüben würde er jedoch nicht: "Niemand sollte in die Armee gezwungen werden, sondern wir müssen die Leute motivieren. Wichtig ist, dass sie ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt werden."
Der Gesetzesentwurf der Regierung sieht zudem vor, dass Wehrpflichtige, die sich aus Sicht der Armee entziehen, in privaten Geldgeschäften stark eingeschränkt werden können, unter anderem keine Kredite mehr bekommen. Dies verstoße gegen die Verfassung, kritisierte Dmytro Lubinets, der Menschenrechtsbeauftragte des Parlaments.
Kritikerinnen wie Julia Sasoba bemängeln, eine Neuauflage des Gesetzes sei längst überfällig. Und auch die regionale Struktur der Militärkommissariate müsse geändert werden. Armeeangehörige sagten dem ARD-Studio Kiew zudem, wertvolle Zeit zur militärischen Ausbildung sei verstrichen.
Einzug von Wehrpflichtigen nicht unter Zwang
Unterdessen machen im Netz zahlreiche Videos die Runde, die zeigen sollen, wie Männer von Armeevertretern gegen ihren Willen registriert oder gar weggebracht werden. Vorladungen zum Klären von Daten können auch auf der Straße zugestellt werden, aber keinesfalls dürfe man Wehrpflichtige mitnehmen, sagt Julia Sasoba von der regierungsunabhängigen Organisation "Juristische Hundertschaften".
Die Juristin aus Tschernihiw berät ukrainische Männer und deren Angehörige rund um die Mobilisierung, die als systematisch undurchsichtig verschrien ist. "Es kommt vor, dass Militärangehörige Wehrpflichtige unter Anwendung von Zwang ins Militärhauptquartier bringen. In unserem Land ist dies gesetzlich verboten, auch auf Verfassungsebene."
Wehrpflichtige müssen sich in den mehr als 20 regionalen Militärkommissariaten registrieren, mustern und medizinisch untersuchen lassen. Viele würden ihre Rechte nicht kennen, sagt Sasoba. Und die Militärkommissariate würden Betroffene nicht immer über diese informieren. Etwa unter welchen Bedingungen sie zurückgestellt werden können.
Schlechter Ruf ukrainischer Militärkommissariate
Die regionalen Militärkommissariate haben seit langem den Ruf der Bestechlichkeit. So sollen wehrfähige Männer für Millionen Dollar untauglich geschrieben worden sein. Im August vergangenen Jahres entließ Selenskyj deswegen auf einen Schlag alle Leiter. Die Probleme seien damit aber nicht gelöst, so die Erfahrung von Sasoba. Sie verweist auf die Militärärzte in den Militärkommissariaten, die bestimmen, ob jemand tauglich ist oder nicht. Oft ignorierten Vertreter dieser medizinischen Kommissionen gesundheitliche Dinge und stuften jemanden als tauglich oder teilweise tauglich ein. Gegen solche Entscheidungen könne Berufung eingelegt werden, aber das brauche Zeit und stoppe den Mobilisierungsprozess nicht.
Zudem hätten Männer auch einfach Angst vor der Front, erklärt Sasoba. Alle wissen, dass ein Einsatz Behinderung, Verletzung, Traumata, Gefangenschaft oder den Tod bedeuten kann. So wie im Fall des Schwagers von Ljudmila Kulyk. Auf seinen Wunsch hin wurde er nicht in Tscherkassy, sondern in Kiew beerdigt, erzählt sie und ringt um Fassung. "Vielleicht hat er irgendwie alles geahnt, als er den Wunsch äußerte. Und wir haben diesen dann auch erfüllt."