Kriegsalltag in der Ukraine "Gesellschaft würde ohne Frauen nicht funktionieren"
Der Mann kämpft an der Front, die Frau kümmert sich um Haus und Kinder: In Kriegen verfestigen sich oft alte Rollenverteilungen. In der Ukraine zeigt sich aber auch, dass es nicht so sein muss.
In dem kleinen Raum der Organisation "Frauenmarsch" in Kiew stapeln sich Kisten und Päckchen bis unter die Decke. Die Regale sind gefüllt mit Damenbinden, Medikamenten, Kinderschuhen und Decken. Tetiana hat sich einen Zettel und eine leere Paketbox geschnappt.
"Auf dieser Bestellung sind zum Beispiel: Damenbinden, Menstruationstassen, Einkaufsbeutel, Waschpulver, Wasserreinigungsfilter und eine Decke. Außerdem Antibabypillen, die Pille danach und ein Schwangerschaftstest", erzählt Tetiana. Die Bestellung komme aus der Region Dnipropetrowsk, aus dem Dorf Slawjanka.
Humanitäre Hilfe für Frauen
Die feministische Gruppe organisiert normalerweise die jährliche Demonstration am 8. März für die Rechte von Frauen. Aber Großveranstaltungen sind aus Sicherheitsgründen zur Zeit verboten. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges leistet die Gruppe vor allem humanitäre Hilfe - speziell für Frauen.
Frauen seien nämlich von den Folgen des Krieges ganz besonders betroffen, denn Männer sorgten für sich selbst - von einer Frau hänge aber die ganze Familie ab, erklärt Olena Bykowa: "Sie muss sich um die gesamte Familie kümmern, um die Kinder, ihre Eltern und die Eltern ihres Mannes. Der Mann zieht in den Krieg und sie wird mit all dem allein gelassen. Sie kann nicht arbeiten gehen, weil sie Care-Arbeit leistet."
Mehr als 70 Prozent der Arbeitslosen sind Frauen
Hinzu komme: In den Frontregionen gebe es so gut wie keine Arbeit, sagt Bykowa. Frauen haben also keine Chance, Geld zu verdienen. Deshalb will "Frauenmarsch" so gut es geht helfen. Daten des ukrainischen Arbeitsamtes belegen: Mehr als 70 Prozent der im vergangenen Jahr arbeitslos gemeldeten Menschen in der Ukraine sind Frauen.
Acht Millionen Frauen und Mädchen im Land sind nach UN-Angaben auf humanitäre Hilfe angewiesen. Und auch häusliche und sexuelle Gewalt nähmen zu. Für die Frauenrechtsaktivistin Olena Schewtschenko kommt das nicht überraschend. Jeder Krieg in jedem Land bedeute eine Rückkehr zu traditionellen Werten.
"Das ist immer eine Gefahr. Aber es liegt an der Gesellschaft zu entscheiden, welche Lehren wir grundsätzlich aus der Vergangenheit ziehen und was wir jetzt in dieser Situation machen werden." Im Moment, sagt Schewtschenko, sehe sie die Situation aber eher als fortschrittlich an.
Frauen immer öfter in Industrie und Handwerk tätig
Was die Zahlen des ukrainischen Arbeitsamtes nämlich auch zeigen: Frauen dringen in traditionell männlich dominierte Berufe vor. Nicht nur im Militär - sondern auch in Industrie und Handwerk. Allein im Baugewerbe ist der Anteil von Frauen um 18 Prozent gestiegen. Im Bergbau wurde fast jede zweite freie Stelle von einer Frau besetzt.
Für die gesellschaftliche Rolle von Frauen würden sich dadurch Chancen ergeben, sagt die Soziologin Hanna Hrytsenko, denn es bedeute, dass jede Person einbezogen werde: "Es gibt eine Menge Arbeit und jemand muss sie machen.
Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass der männliche Teil der Gesellschaft in der Produktion arbeitet oder im Militär. Die Gesellschaft würde ohne Frauen nicht funktionieren." Hrytsenko ist der Ansicht, dass sich das Bild der Frauen als Barbie oder Hausfrau ändere und folglich die traditionelle Rolle gerade zerfalle.
"Frauen müssen sich gegenseitig unterstützen"
Der Krieg als Chance für Frauen - das hört sich zunächst paradox an. Doch die Not würde viele Frauen dazu bringen, ihre eigene Stärke zu entdecken, meint Olena Bykowa von der Organisation "Frauenmarsch". Das hätte schon fast etwas Feministisches: "Solche Gefühle nehmen bei den Frauen zu, weil es weniger Männer gibt. Und Frauen müssen sich gegenseitig unterstützen und einander helfen." Die Durchschnittsfrau wisse vielleicht nicht einmal, dass sie eine Feministin ist und hat Angst vor diesem Wort, meint Bykowa, "aber an sich sind ihre Ansichten feministisch".