Erdogan und Kristersson schütteln auf dem NATO-Gipfel in Vilnius (Litauen) die Hände, beobachtet von Stoltenberg
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Schwedens Beitritt zu NATO Geht jetzt alles ganz schnell?

Stand: 11.07.2023 20:42 Uhr

Mehr als ein Jahr hat sich der türkische Präsident Erdogan dem Beitritt Schwedens zur NATO widersetzt - am Vorabend des Gipfels in Vilnius lenkte er überraschend ein. Aber wie handfest ist die Zusage - und wie schnell kann es nun gehen?

Welchen Unterschied ein halber Tag machen kann: Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sich am Montag auf den Weg zum NATO-Gipfel ins litauische Vilnius machte, verpasste er den Hoffnungen auf einen baldigen NATO-Beitritt Schwedens einen weiteren gewaltigen Dämpfer.

Völlig überraschend stellte Erdogan eine Verbindung zwischen der NATO-Mitgliedschaft und den Beitrittsgesprächen der Türkei mit der EU her. Wenn der Weg der Türkei in die Europäische Union geebnet sei, werde die Türkei auch den Weg Schwedens in die NATO ebnen, so Erdogan.

Am Montagabend, nach einem mehrstündigen Gespräch mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson, klang vieles ganz anders: Erdogan erklärte sich bereit, dem türkischen Parlament das Beitrittsprotokoll bald zur Zustimmung vorzulegen, während Schweden versprach, aktiv die Wiederaufnahme der Gespräche zwischen EU und Ankara über einen Beitritt zu fördern.

Auch für eine Ausweitung der Zollunion und die Einführung der Visafreiheit für Türkinnen und Türken will Schweden sich einsetzen - hier kommen die Gespräche ebenfalls nicht vom Fleck. Außerdem machte Kristersson Zusagen hinsichtlich der Terrorismusbekämpfung - das zielt auf die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Aktivitäten ihrer mutmaßlichen Mitglieder in Schweden ab.

Nun muss das Parlament einbezogen werden

Für die NATO und für Schweden stellte Erdogans Pirouette eine große Erleichterung dar. Aber ob der Beitritt Schwedens in die NATO nun zügig, also schon bis zum Herbst, vollzogen werden kann, ist damit nicht gesichert. Zunächst hängt es davon ab, wann Erdogan den parlamentarischen Prozess startet - eine Zustimmung der Abgeordneten zum Beitrittsprotokoll ist zwingend erforderlich. Zunächst muss das Protokoll aber durch eine Kommission des Parlaments, sodass unklar ist, ob die Abgeordneten noch vor der Sommerpause abstimmen werden.

Und die Türkei ist nicht das einzige Land, in dem das parlamentarische Plazet noch aussteht - auch die Ungarn haben das Protokoll noch nicht ratifiziert. Die ungarische Regierung hatte bislang die türkische Blockadehaltung unterstützt. Nun aber signalisierten aber sie, den Schwenk mitzuvollziehen. Außenminister Peter Szijjarto schrieb auf Facebook, der Abschluss des Ratifizierungsprozesses sei "eine rein technische Frage".

Welche Rolle spielt der EU-Beitrittsprozess?

Und doch bleiben Unwägbarkeiten. Man darf annehmen, das Schweden sein Versprechen erfüllt, sich für eine Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche einzusetzen. Allein: Dazu müsste der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs der EU, der Kommission das Mandat erteilen, die Verhandlungen über viele Einzelfragen, wieder aufzunehmen und neue, die in den Beitrittsgesprächen noch gar nicht behandelt wurden, zu beginnen. Insgesamt geht es um 33 sogenannte Kapitel, von denen erst ein einziges abgeschlossen ist.

In der EU war das Echo auf die türkische Verknüpfung von NATO- und EU-Beitritt aber mehr als verhalten. EU-Ratspräsident Charles Michel kündigte zwar am Montag auf Twitter an, es sollten Möglichkeiten ausgelotet werden, wieder enger zu kooperieren und den Beziehungen neue Energie zu geben. Was das konkret bedeutet, bleibt vorerst unklar. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte dagegen, beide Fragen hingen nicht miteinander zusammen, deshalb "sollte man das nicht als ein zusammenhängendes Thema verstehen".

Das klingt nicht nach einem hohen Tempo. Andererseits ist nicht ausgemacht, wie schnell und wie handfest Erdogan tatsächlich Ergebnisse von der EU erwartet. Der frühere deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann, äußerte gegenüber tagesschau.de die Vermutung, Erdogan habe wohl erkannt, dass er in Sachen EU-Beitritt eine gravierende Forderung gestellt und "sich auf einen Ast begeben" habe, von dem er "wieder heruntersteigen musste". Gut möglich also, dass diese Forderung in den kommenden Monaten keine große Rolle mehr spielen wird.

Leichter wird es der schwedischen Regierung fallen, mit ihrer Parlamentsmehrheit einen Plan zur Terrorismusbekämpfung vorzulegen. Ob dieser dann der Türkei genügt, muss sich weisen.

Erdogans Wunsch nach Kampfjets

Erdogans lange Weigerung, dem NATO-Beitritt Schwedens zuzustimmen, war von einigen NATO-Partnern als Druckmittel wahrgenommen worden, um die USA zum Verkauf von F-16-Kampfjets zu bewegen. Dies zielte vor allem auf den Kongress, denn Präsident Joe Biden spricht sich schon länger für einen solchen Deal aus. Kurz vor dem NATO-Gipfel bekräftigte er das noch einmal - im Senat aber gab es bislang sowohl bei Republikanern als auch bei Demokraten Widerstand gegen einen solchen Vertrag.

Die Kritik an der Türkei ist in beiden Parteien groß. Senatoren werfen ihr Verstöße gegen die Menschenrechte und Aggressionen gegen Nachbarländer vor - gemeint damit sind Syrien und der NATO-Verbündete Griechenland. Senator Bob Menendez, der Vorsitzende des außenpolitischen Aussschusses, erklärte zwar nun, er werde mit Biden über die F-16 sprechen. Zugleich stellte er aber Forderungen, die kaum schnell zu erfüllen sein dürften - die derzeitige "Flaute" in den türkischen Aggressionen gegen seine Nachbarstaaten müssten "eine ständige Realität" werden.

Die Zustimmung der Türkei an einem NATO-Beitritt Schwedens hängt mithin an vielen Erwartungen und Bedingungen - ob sich alle erfüllen werden und wie die Türkei mit etwaigen Enttäuschungen umgehen wird, sind nur einige von vielen Fragen nach dem überraschenden Schwenk Erdogans.

Der türkische Präsident verfolge eine erratische Außenpolitik, sagt Ex-Diplomat Erdmann im tagesschau.de-Interview, es sei selbst für langjährige Beobachter schwer, sich einen Reim darauf zum machen. Eine Strategie sei jedenfalls nicht zu erkennen. Für die Schweden und die Allianz könnte das bedeuten: Weitere Überraschungen sind nicht ausgeschlossen.

Benjamin Weber, ARD Istanbul, tagesschau, 11.07.2023 21:18 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 11. Juli 2023 um 18:00 Uhr.