Russland "Niemand im Verteidigungsapparat ist mehr sicher"
Mehrere spektakuläre Festnahmen erschüttern den russischen Militärapparat. Stets geht es um Korruption und Bestechlichkeit. Doch wieso geschieht dies gerade jetzt? Und welche Auswirkungen hat das auf die Armee?
Erst war es ein Einzelfall: Ende April wurde Timur Iwanow festgenommen, stellvertretender Verteidigungsminister Russlands und zuständig für militärische Bauprojekte, und für zunächst zwei Monate in Untersuchungshaft genommen.
Die Behörden werfen ihm vor, hohe Bestechungssummen angenommen zu haben. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Weitere Festnahmen folgen
Doch es blieb nicht bei einem Einzelfall. Inzwischen hat es vier weitere hochrangige Mitarbeiter des Verteidigungsapparats getroffen, darunter den Vizechef des russischen Generalstabs, Wadim Schamarin. Auch er soll hohe Summen an Bestechungsgeldern kassiert haben.
Und dann Generalmajor Iwan Popow: Er diente bis zum Sommer 2023 als Kommandeur der 58. Armee, kritisierte nach hohen Verlusten die Kriegsführung Moskaus in der Ukraine und wurde schließlich entlassen.
Nun wird auch gegen ihn der Vorwurf des Betrugs und der Veruntreuung erhoben: Er soll Hilfsgüter der Armee im Wert von umgerechnet einer Million Euro zweckentfremdet und verkauft haben.
Peskow wiegelt ab
Kremlsprecher Dmitri Peskow wies zurück, dass es eine Kampagne gegen die Beamten des Verteidigungsministeriums gebe. Der Kampf gegen Korruption sei eine dauerhafte Arbeit, sagte er. Das gehöre zu den grundlegenden Aufgaben der Strafverfolgungsbehörden.
Doch Korruption im russischen Verteidigungsapparat sei nicht die Ausnahme, sondern fest verankerte Praxis, sagt Margarete Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Das heißt, wenn jemand verhaftet wird wegen Korruptionsvorwürfen, dann ist diese Verhaftung immer auch ein politischer Akt."
Popows Absetzung und spätere Festnahme sorgten in der Armee für große Unruhe - daraufhin wurde er aus dem Gefängnis entlassen und befindet sich nun in Hausarrest.
Mehrere Erklärungen
Aber wieso erfolgen diese Verhaftungen gerade jetzt? Dazu gibt es mehrere Theorien:
Eine Variante: Nach der Ablösung des langjährigen russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu steht sein Nachfolger Andrej Beloussow, der als Ökonom über keine Hausmacht im Militär verfügt, vor der Aufgabe, sich dort durchzusetzen.
Durch die Verhaftungen schaffe Beloussow möglicherweise erst einmal Unsicherheiten und versuche so, Loyalität innerhalb des Militärsystems zu erzwingen, sagt Klein.
Eine Spätwirkung auch der Misserfolge?
Die zweite Möglichkeit: Man will Sündenböcke finden, die für die Probleme der russischen Armee auf dem Schlachtfeld - zu Beginn des Krieges, aber auch innerhalb der aktuellen Offensive - verantwortlich sind und so von eigenen Fehlern ablenken, erklärt Klein.
Und dritte Theorie von Experten: Es handelt sich um einen Kampf innerhalb des breiteren Sicherheitsapparats. Inlandsgeheimdienst FSB, Auslandsgeheimdienst SVR, die Nationalgarde und das Militär streiten um Ressourcen im massiv gestiegenen Haushalt für Verteidigung und innere Sicherheit.
Umgerechnet 109 Milliarden Euro - rund ein Drittel des russischen Gesamthaushaltes - will Russland in diesem Jahr in sein Militär stecken.
Es versickert zu viel Geld
Auch Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sieht den Grund in der vermeintlichen Anti-Korruptions-Kampagne, die manche auch als Säuberung bezeichnen, eine Konsequenz des russischen Angriffskrieges in der Ukraine.
Der Kreml habe eingesehen, "dass es einfach mehr Effizienz in der Produktion von Waffen und auch in der Mobilisierung braucht, dass relativ viel Geld, auch durch Korruption und auch Material durch Korruption verschwunden ist".
Die Milliarden aus dem Verteidigungshaushalt sollten künftig nicht mehr in einem korrupten und dysfunktionalen Ministerium versickern. Vielmehr gehe es darum, mehr Menschen und Material an die Front zu bringen.
Noch mehr Angst vor Fehlern
Allerdings könnte es gerade in diesem Bereich - zumindest kurzfristig - Probleme geben, glaubt der Militäranalyst Jan Matwejew von Alexej Nawalnys Stiftung für Korruptionsbekämpfung. Weil es durch die Umbesetzungen neue Ansprechpartner gibt, würden sich Kommunikationswege und Entscheidungsprozesse verzögern.
"In einer Zeit der Repressionen will jeder sich rückversichern", glaubt Matwejew, "denn wenn Du etwas falsch machst, kann man auch dich morgen verhaften oder in den Ruhestand schicken".
Jeder werde versuchen, möglichst wenig Verantwortung zu übernehmen und sich abzusichern. Daher könne es kurzfristig logistische Nachschubprobleme an der Front geben. Allerdings mache Putin mit den Umbesetzungen auch klar, dass er sich auf einen langen Krieg einstellt.
"Ein Zeichen von Stärke"
Stefan Meister glaubt, dass die Neuorganisation des Ministeriums mittelfristig eine schlechte Nachricht für die Ukraine sei.
Für mich ist dieses Aufräumen ein Zeichen von Stärke. Es zeigt, dass es möglich ist, das System effizienter zu gestalten. Dass, wenn Putin hinschaut, auch Korruption bekämpft werden kann. Und, dass er eben auch dazu bereit ist, alte, loyale Weggefährten aus Schlüsselpositionen abzuziehen und effiziente Technokraten einzusetzen - gute Manager, um das System effizienter zu gestalten.
Wachsende Kontrolle durch den FSB
Dazu bediene sich Putin auch einer Unterabteilung des FSB, die er bereits nach seinem Amtsantritt im Jahr 2000 gegründet hat, erklärt der russische Exil-Journalist Andrej Soldatow in einem Artikel des Center for European Policy Analysis.
Die Abteilung ist demnach für Spionage im Militär zuständig und soll offiziell ausländische Spione in der russischen Armee identifizieren. Doch die Einheit sei schon immer dazu da gewesen, das Militär folgsam zu halten, so Soldatow.
Lange hielt sie sich aus der Politik zurück, blieb unauffällig. Doch in den vergangenen beiden Jahren sei sie immer aktiver geworden. Auch für die aktuelle Aufräumaktion soll sie zuständig sein.
Die Botschaft sei klar, so Soldatow: "Putin ist kaltblütig genug sich zu rächen. Zu jeder Zeit."
Timur Iwanow stand schon lange in dem Ruf, sich in großem Maße bereichert zu haben - verhaftet wurde er dann spektakulär in Uniform.
Ein Weg, um Loyalität zu erzwingen
Durch die Verhaftungen der fünf hochrangigen Militärs entstehe der Eindruck, dass niemand im Verteidigungsapparat mehr sicher ist. Das sei typisch für autoritäre Systeme wie Russland, meint Margarete Klein.
Es gehe nicht darum, einzelne Täter dingfest zu machen, sondern darum, Loyalität zu erzwingen. Und das funktioniere am besten durch Unsicherheit im Apparat.