Alissa Ganijewa
Interview

Schriftstellerin Ganijewa "Es braucht eine andere Art von Widerstand"

Stand: 22.08.2022 15:05 Uhr

Schriftstellerin Alissa Ganijewa hat Russland aus politischen Gründen verlassen. Sie beschreibt, warum herkömmlicher Protest "sinnlos" ist - und wie unterschiedlich die Russen mit ihrer moralischen Verantwortung umgehen.

ARD: Fiel es Ihnen schwer, Russland zu verlassen?

Ganijewa: Mir schien immer, dass ich nie freiwillig emigrieren würde, sondern nur, wenn der Anfang vom Ende sichtbar sein würde - also vielleicht jahrelange Haft drohen würde. Leute fragten mich ständig, warum ich noch da sei: "Du warst mit Protestplakaten auf der Straße, du hast Pakete gepackt für ukrainische Kriegsgefangene. Es ist zu gefährlich."

Ich wollte lange nicht gehen. Doch es wurde täglich beunruhigender. Es gab immer weniger Flüge ins Ausland, die Duma verabschiedete ein bedrohliches Gesetz nach dem anderen - das Gesetz über Fake News, das Gesetz über Diskreditierung der Armee. Bald danach begannen die Festnahmen und Strafverfahren.

Alissa Ganijewa
Zur Person
Alissa Ganijewa ist eine russische Schriftstellerin und wurde 1985 in Moskau geboren. In Deutschland sind von ihr mehrere Romane und Erzählungen erschienen, zuletzt der Roman "Verletzte Gefühle". Ganijewa gehörte zu den Unterzeichnern eines Appells russischsprachiger Schriftsteller vom März 2022, die Wahrheit über den Militäreinsatz in der Ukraine zu verbreiten. Inzwischen hat sie Russland verlassen und lebt in Kasachstan.

ARD: Was hat den Ausschlag gegeben für Ihre Ausreise?

Ganijewa: Es war ja fast physisch spürbar, wie es enger wird, wie sich eine Schlinge zuzieht. Bei einigen meiner Bekannten gab es Hausdurchsuchungen, andere bekamen vorbeugende Haftstrafen. Aus den Chats, in denen wir uns austauschten, verschwanden nach und nach die Leute. Sie schrieben: "Ich bin festgenommen, ich verlasse jetzt die Gruppe, damit sie Eure Kontakte nicht finden."

Zu gehen war dann nicht einmal meine eigene Entscheidung. Es war mein Mann, der sagte: "Du solltest für eine Weile ins Ausland." Die Entscheidung fiel abends um neun. Und um Mitternacht saß ich im Zug. Sie können sich vorstellen, in welcher Hast ich gepackt habe. Es war ja nicht klar, ob die Grenze geöffnet bleiben würde.

ARD: War Ihnen bewusst, dass aus der "Weile" Monate werden könnten?

Ganijewa: Ich hoffte immer, dass es nicht für lange sein würde. Du lebst - vielleicht wie alle Emigranten - in der Erwartung, dass es vorübergeht, dass es nur eine Frage der Zeit ist. In den ersten Wochen schien es mir noch, als könnte ich, falls nötig, schnell zurückkehren. Aber ich sah dann auch, wie sinnlos der Protest in Russland ist. Wer mit einem Plakat auf die Straße geht, wird sofort festgenommen. Und wer nur eine Verwaltungsstrafe bekommt, also eine Geldstrafe, finanziert zwangsläufig den Krieg. Es braucht eine andere Art von Widerstand, der überall praktiziert werden kann und wirkt, auf beiden Seiten der Grenze. Eine innere moralische Einstellung.

"Marina Owsiannikowa hat genau das Richtige getan", sagt Alissa Ganijewa, russische Schriftstellerin

tagesthemen 22:30 Uhr

"Es gibt so tiefe Gräben jetzt"

ARD: Gibt es dieses Bewusstsein auch in Russland?

Ganijewa: Es gibt so tiefe Gräben jetzt. Nicht nur zwischen Russen und Ukrainern, das ist unvermeidlich - sondern auch innerhalb der russischen Gesellschaft gibt es so viele Trennlinien. Die schärfste, so scheint mir, verläuft nicht zwischen denen, die gegangen und denen, die geblieben sind. Sondern zwischen denen, die ihre eigene, sei es auch nur relative Verantwortung für die blutigen Ereignisse in der Ukraine anerkennen - und denen, die das nicht tun. Auch denen, die sich selbst freisprechen und sagen: "Wir haben nichts damit zu tun. Und seht, wir helfen doch jetzt Flüchtlingen."

Diese Leute sind verletzt, wenn Ukrainer in sozialen Medien über den Schmerz, das Leid schreiben und dafür auch sie verantwortlich machen. Sie wollen nicht akzeptieren, dass es unmöglich ist, Angehörige eines Volkes zu lieben, das dich gerade töten will, das dich bombardiert. Sie wollen trotz des Krieges nach den Gesetzen des Friedens leben, in denen es keinen Hass gibt.

ARD: Noch einmal zurückgeblickt: Wie haben Sie den 24. Februar in Erinnerung?

Ganijewa: Morgens habe ich auf Telegram die Nachrichten gelesen, mit dieser Vorahnung. Und dann waren da die Eilmeldungen, die Karte der Ukraine, übersät mit roten Symbolen, eines für jeden Angriff. Die Bomben auf Kiew, die Schlangen von Menschen, die die Stadt verlassen.

Ich habe sofort den Ukrainern geschrieben, die ich kenne, habe gefragt, wie es ihnen geht, wo sie sind. Du weißt ja nicht, was du tun kannst, wie du helfen kannst, da ist diese totale Machtlosigkeit. Und das Gefühl des Grauens. Plötzlich waren die schlimmsten Fantasien eingetreten. Russland ist wirklich in die Ukraine einmarschiert, wie wir es seit November befürchtet hatten.

"Alle moralischen Schwellen überschritten"

ARD: Das heißt, Sie hatten damit gerechnet?

Ganijewa: Ja, im Gegensatz zu vielen anderen habe ich es immer für möglich gehalten. Ich hatte für mich sogar das Datum festgelegt, hatte vermutet, dass es der 23. Februar sein könnte, der Feiertag der russischen Armee. Die Olympischen Spiele würden dann vorbei sein, während der Spiele würde niemand diesen quasi-Frieden beenden, so hatte ich mir ausgerechnet. Es war also keine Überraschung für mich.

Und dennoch - es war unwirklich, wie in einem Traum. Die Zeit lief langsamer. Überhaupt fühlten sich diese ersten Tage apokalyptisch an. Dein Land hat alle moralischen Schwellen überschritten, sein einzig denkbarer weiterer Weg ist der, auf einen Abgrund zuzurollen und hineinzustürzen ... weil es unmöglich scheint, mit dieser Last weiter zu existieren. Jeder Bürger Russlands, jeder, der auf die eine oder andere Weise zu dieser Gesellschaft gehört, muss nun für sich dieses moralische Rebus, diese Aufgabe lösen: Wie geht man mit dem um, was da gerade geschieht?

ARD: Wie fühlt es sich an, Emigrantin zu sein, ohne Zuhause zu sein?

Ganijewa: Mir scheint, es hängt von den Auswanderungsgründen ab. Ginge es etwa um eine Revolution wie 1917, wäre das ein ganz anderes Gefühl. Du hättest das Recht, dich zu beschweren über deine Situation, dich ein wenig zu bemitleiden, auch mit deinem Land zu leiden. Jetzt ist die Situation völlig anders. Du hast ein Land verlassen, das ein Aggressor ist, das sich geriert wie ein Terrorstaat. Du kannst nicht einfach Heimweh haben. Denn der Krieg geht weiter. Dein Land tötet weiterhin Zivilisten im Nachbarland. Und solange es das tut, kannst du nicht entspannen. Du erlaubst dir kein inneres Recht auf ein normales Alltagsleben, auf Kreativität, auf Kulturleben.   

Für mich hat sich alles geändert. Fast all mein Sozialleben findet jetzt virtuell statt. Ich habe keine Arbeit, kein Gefühl für eine Zukunft. Und doch spüre ich inneren Optimismus, eine Gewissheit, auf der historisch richtigen Seite zu stehen. Ich muss nun lernen, loszulassen, nicht mehr ständig auf dem Sprung zu sein, nicht mehr jeden Moment daran zu denken, wann ich zurückkehren kann nach Moskau. Denn es wird lange dauern. Dies ist das Schwierigste: den Standby-Modus auszuschalten. Ich habe das noch nicht geschafft. Und so vielen Menschen mag es ähnlich ergehen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 15. März 2022 um 22:30 Uhr.