Experte zu Wahlergebnis in Polen "Neue Regierung wird zu Tricks greifen müssen"
Polen steht ein Regierungswechsel ins Haus - wie schnell, hänge von Präsident Duda ab, sagt Politikexperte Buras. Welche Reformen die Koalition nun zuerst angehen will und was aus der abgewählten PiS wird.
tagesschau: Das amtliche Endergebnis der Wahl in Polen läuft auf einen Regierungswechsel hinaus, obwohl die bisherige Regierungspartei PiS stärkste Kraft ist. Wer hat da abgestimmt - und wofür?
Piotr Buras: Ich glaube, letzten Endes haben die bis vor kurzem unentschiedenen Wähler den Ausschlag über die Wahl gegeben - insbesondere die hohe Wahlbeteiligung ist darauf zurückzuführen. Und wer waren diese Leute? Es waren, glaube ich, vor allem junge Leute und Frauen, die den Unterschied gemacht haben - die haben mehrheitlich für die Oppositionsparteien gestimmt.
Aus dieser Perspektive heraus kann man sagen: Die jungen Leute und an zweiter Stelle Frauen, deren Wahlbeteiligung auch überproportional war, haben die Wahl entschieden.
Piotr Buras ist Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR).
Die Folgen der Polarisierung
tagesschau: Was hat für sie den Ausschlag gegeben, doch noch ihre Stimme abzugeben?
Buras: Es war erstens die sehr hohe Emotionalität dieser Wahlkampagne und eine sehr große Polarisierung, die dazu geführt hat, dass sich beide Seiten motiviert fühlten, zur Wahl zu gehen und ihre jeweiligen Parteien zu unterstützen.
Zweitens - das ist vielleicht eine paradoxe Feststellung - hat aber auch die Ablehnung dieser Polarisierung die Leute motiviert, sich an der Wahl zu beteiligen. Das ist eine gute Nachricht, denn es steht fest: Sehr viele Polen haben von dieser Polarisierung die Nase voll, von dem Kampf und dem Hass, den sie ständig in den sozialen Medien sehen und im öffentlichen Leben spüren. Das hätte auch zu Politikverdrossenheit führen können, aber das ist nicht passiert.
Natürlich haben beide Seiten, sowohl Donald Tusk als auch Jaroslaw Kaczynski, lange auf Polarisierung gesetzt. Aber in der Endphase seiner Kampagne hat Tusk völlig andere Töne angeschlagen: Er hat von der Notwendigkeit gesprochen, die Spaltung zu überwinden, die Gesellschaft irgendwie zusammenzuhalten oder wieder zusammenzubringen. Er hat die Einigkeit der Oppositionsparteien herausgestellt.
Und interessanterweise haben auch fast 15 Prozent der Wähler für den "Dritten Weg" gestimmt - die wichtigste Botschaft dieser Partei war: Wir sind nicht Teil dieser Konfrontation zwischen Tusk und Kaczynski und wollen es anders machen. Sie sind die größten Gewinner dieser Wahl.
Und dazu kam in der Endphase vor allem bei den jüngeren Wähler ein Erwachen, dass sie realisiert haben: Vielleicht steht tatsächlich viel auf dem Spiel bei dieser Wahl. Vielleicht sollten wir tatsächlich hingehen und unsere Stimme abgeben.
"Rechtliche Grundlage für Reformen fehlt"
tagesschau: Wie schwer wird nun die Regierungsbildung?
Buras: Die wird wahrscheinlich in den kommenden zwei Monaten vollzogen werden. Jetzt ist die große Frage, wie sich der Präsident verhalten wird. Er erteilt den Auftrag zur Regierungsbildung und hat freie Hand, eine beliebige Person zu nominieren. Wahrscheinlich wird er einen Vertreter der PiS benennen - von der Partei, die die Wahl gewonnen, aber gleichzeitig verloren hat, weil sie keine Koalitionsmöglichkeiten hat.
Dadurch wird sich der Prozess der Regierungsbildung um zwei bis drei Wochen verlängern. Wenn dieser erste Schritt der Regierungsbildung scheitert, weil ein Kandidat der PiS keine Mehrheit im Parlament finden wird, sieht das Prozedere vor, dass die Opposition versucht, die Regierung zu stellen, weil nicht mehr der Präsident, sondern das Parlament die Initiative ergreift. Der Präsident hat in diesem zweiten Schritt nichts mehr zu sagen. Er kommt erst wieder ins Spiel, um dann die gebildete Regierung zu bestätigen.
Das heißt, vor Weihnachten müssten wir eigentlich eine Regierung haben, wahrscheinlich nicht viel früher, weil die erste Sitzung des Parlaments möglicherweise erst Mitte November stattfinden wird. Auch das ist die Entscheidung des Präsidenten, der als PiS-Loyalist die Zeit, die er hat, vermutlich vollkommen ausschöpfen wird. Es ist im Interesse der aktuellen Regierungspartei, dass die erste Sitzung möglichst spät passiert, weil sie dann noch länger an der Macht ist und sich auf auf den Machtverlust vorbereiten kann.
Wie Reformen durchsetzen?
tagesschau: Wie stabil wird das Oppositionsbündnis als Regierung sein?
Buras: Das Bündnis ist rein zahlenmäßig stabil. Ich glaube, es gibt in vielen Fragen einen breiten Konsens: der Wiederaufbau der Rechtsstaatlichkeit, der proeuropäische Kurs, mehr Investitionen in den öffentlichen Sektor, Erleichterungen für die für die Unternehmer ... Die Parteien haben sich auf dieses Szenario lange vorbereitet und in der vergangenen Legislaturperiode einige gemeinsame Gesetzesvorschläge eingebracht.
Natürlich wird es in einigen Punkten aber auch zu Spannungen kommen: Ich kann mir vorstellen, dass die Frage, wie man bestimmte Reformen macht, für Unstimmigkeiten sorgen kann. In Polen wird die neue Regierung, um etwas durchsetzen zu können, wahrscheinlich zu unterschiedlichen Tricks greifen müssen, weil die rechtliche Grundlage für notwendige Reformen fehlen wird - denn diese sind von der Vorgängerregierung komplett zerstört worden. Das wird für große Komplikationen sorgen.
Man wird sich fragen müssen: Wir wollen zum Beispiel das öffentliche Fernsehen vom politischen Einfluss der PiS befreien. Aber wie machen wir das? Was ist die rechtliche Grundlage? Wenn wir zu legalistisch handeln, können wir gar nichts machen, weil der Verfassungsgerichtshof oder der Präsident sich quer legt. Hier kann ich mir vorstellen, dass einige etwas schneller und weniger legalistisch vorgehen wollen; andere werden sagen: Man kann die Rechtstaatlichkeit nicht unter Bruch der rechtstaatlichen Regeln wiederherstellen.
Auch in ganz konkreten Fragen wie der Migration wird etwa die Linke andere Ideen haben als Tusk - und da die Linke bei der Wahl ziemlich schwach abgeschnitten hat, wird sie auch sehr darauf achten müssen, dass ihre Positionen und Werte nicht komplett untergehen.
"Priorität wird sein, die PiS zu entmachten"
tagesschau: Welche Projekte wird die neue Regierungskoalition wohl zuerst angehen?
Buras: Die Priorität wird sein, die PiS zu entmachten - also erstmal keine großen Reformen durchzusetzen, sondern einfach die institutionelle Veränderung, die Not tut. Man wird die PiS-Leute aus Machtpositionen entfernen müssen, weil die sich da ziemlich tief eingegraben haben und das Regieren erschweren können: aus staatseigenen Unternehmen, Ministerien, dem öffentlichen Fernsehen.
Aber die neue Regierung wird ein paar symbolträchtige Reformen durchsetzen müssen, um sich die Unterstützung und das Vertrauen in der Gesellschaft zu sichern. Und so wie die PiS 2015 die berühmte Kindergeld-Reform eingeführt hat, wird die neue Regierung die Investitionen in Bildung und den öffentlichen Sektor steigern und vor allem - als symbolträchtige Maßnahme - die Gehälter der Lehrer anheben. Das ist bitter nötig - und ein klares Signal dafür, was ihnen wichtig ist.
Der öffentliche Sektor ist eine wichtige Wählerklientel der "Bürgerplattform", aber auch der anderen Parteien - und diese Klientel muss wissen, dass die Regierung ihre Wahlversprechen erfüllt. Auch diese Maßnahme kann für gewisse Spannungen in der Regierung sorgen, weil einige, wie der "Dritte Weg", möglicherweise sagen: "Wir haben dieses Geld eigentlich nicht", aber andere in der Koalition dann dagegenhalten, weil sie es für politisch notwendig halten.
"PiS wird eine sehr harte Opposition sein"
tagesschau: Welche neue Rolle wird die PiS nun für sich finden?
Buras: Ich glaube, diese Wahlniederlage wird sie in eine Krise stürzen. Das ist ja immer so mit Parteien, die lange an der Macht sind und dann auf so eine Weise entmachtet worden sind.
Die PiS wird eine sehr harte Opposition sein. Sie wird gegen die extreme Rechte "Konfederacija" kämpfen müssen und um deren Wählerschaft buhlen. Und ich fürchte, dass sie eine noch stärkere europaskeptische, wenn nicht antieuropäische Rhetorik an den Tag legen wird. Das hat sich schon in der Wahlnacht abgezeichnet, als die PiS-treuen Medienvertreter sagten, dass der Sieg der Opposition eine Gefahr für Polens Unabhängigkeit darstelle. Es kann sein, dass, wie in Großbritannien vor dem Brexit oder wie in Frankreich, die Einstellung zur EU das politische System stark polarisieren wird.
Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de