Energiewende in Polen "Tschernobyl ist lange her"
Um die Energiewende umzusetzen, steigt Polen in die Atomkraft ein und baut eine Vielzahl großer und kleiner Reaktoren. Angst vor Umweltschäden hat kaum jemand - eher davor, dass die Pläne aus Warschau nicht aufgehen.
Weiße Dünen, feinkörniger Sand, Kiefernwald. Stille, die nur von Vögeln und von Wellenrauschen unterbrochen wird. Ein kleines Paradies für Menschen, die sich nach Ruhe und Natur sehnen, zwischen den beiden Dörfern Kopanino und Lubiatów gelegen, circa 90 Kilometer von Gdansk entfernt. Doch bald ist es damit vorbei: in drei Jahren soll genau hier der Bau des ersten Kernkraftwerks Polens beginnen.
350 Hektar Wald sollen gerodet werden, um Platz für kilometerlange Rohrleitungen zu schaffen. Durch sie soll das Kühlwasser für den Reaktor zum Kraftwerk und zurück ins Meer geleitet werden. Außerdem soll ein Pier gebaut werden, über den das Material für den Bau des Kraftwerks per Schiff transportiert werden kann.
Das Straßenschild des Dorfes Lubiatowo mit dem Aufkleber "Ja für Atom in der Gemeinde Choczewo".
Dutzende kleine Reaktoren
Momentan wird in Polen Strom zu über 70 Prozent aus Braun- und Steinkohle produziert. Bis 2040 soll der Anteil auf acht Prozent sinken. Die Hälfte der Stromproduktion soll dann aus erneuerbaren Energien erfolgen, gefolgt von Strom aus Kernkraft. Neben dem AKW Kopanino-Lubiatów ist ein zweites in der Nähe von Konin geplant, knapp 300 Kilometer von Frankfurt/Oder entfernt - auf dem Gelände eines Braunkohlekraftwerks, das momentan noch im Betrieb ist. Die beiden AKWs sollen 2033 und 2038 ans Netz gehen und zusammen langfristig bis zu neun Gigawatt produzieren.
Zusätzlich plant Polen den Bau von 79 Kleinreaktoren, sogenannte SMR, mit jeweils 300 Megawatt Leistung. Sie sollen ein Drittel der zukünftigen Atomkraftenergie liefern und lokal ganze Ortschaften oder Fabriken mit Strom und Wärme versorgen. Der erste SMR soll schon 2028 ans Netz gehen.
"Soll..." - Monika Morawiecka, Expertin für Mittel- und Osteuropa bei der internationalen Organisation "Regulatory Assistance Project" (RAP), ist da skeptisch. "Kleinreaktoren könnten sehr nützlich sein, vorausgesetzt, sie werden gebaut und funktionieren. Es ist nicht so sicher, ob es klappt. Sie werden noch nirgendwo genutzt."
"Tschernobyl ist lange her"
Laut einer Umfrage von United Surveys für Radio RMF FM und die Tageszeitung "Dziennik Gazeta Prawna" vom November 2023 befürworten 83,5 Prozent der Polen den Bau von Kernkraftwerken im Land - eine 180-Grad-Wende: Vor 40 Jahren, als nur 20 Kilometer vom jetzt geplanten AKW an der Ostsee mit dem Bau des Kernkraftwerks in Żarnowiec begonnen wurde, kam es zur Katastrophe in Tschernobyl. Nach zahlreichen Protesten in ganz Polen wurden die Pläne aufgegeben.
Deutschlands Atomausstieg sehen die Polen heute als großen Fehler, sagt Adam Traczyk, Politologe und Meinungsforscher im Warschauer Thinktank "Moreincommon". "Die Polen betrachten die Deutschen als pragmatisch - und verstehen diesen Schritt nicht. Besonders, wenn sie hören, dass, nachdem AKWs abgeschaltet wurden, einige Kohlekraftwerke wieder ans Netz gegangen sind. Für Polen ist Atomkraft ein Projekt, das dem Land mehr Souveränität im Bereich Energie bringt."
Monika Morawiecka ist da weniger optimistisch. "Ob man wirklich sagen kann, dass man dank AKWs unabhängig wird, ist fraglich", sagt sie. "Technologie und Brennstoff müssen ja importiert werden. Aber es stimmt, dass Atomenergie stabile Energie gewährleisten kann und sicher ist." Angst vor einer Katastrophe wie in Tschernobyl haben die Polen nicht mehr: "Tschernobyl ist lange her. Dafür ist die Angst vor steigenden Energiekosten und schlechter Luft real", so Adam Traczyk.
Protest in deutschen Bundesländern
Die deutschen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen protestierten lange gegen die polnischen AKW-Pläne. Dies stieß im Nachbarland auf Ablehnung. Noch unverständlicher als der deutsche Atomausstieg sei, dass Deutschland verlange, dass andere es ebenso machten, erklärt Adam Traczyk.
Seit das EU-Parlament im Juli 2022 Atomkraft neben Erdgas als grüne Technologien deklariert hat, kann Deutschland die polnischen AKW-Pläne nicht mehr stoppen. Im Rahmen grenzüberschreitender Konsultationen dürften die Länder ihre Meinung sagen und Fragen stellen, aber mehr nicht. Im April 2023 wurden die Konsultation abgeschlossen. "Ich selbst bin gegen Kernkraft, aber muss verstehen, dass unsere Nachbarn eine andere Vision haben", sagt Hendrik Fischer, Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Energie Brandenburgs.
Die polnische Regierung ist bei der Planung der Kernkraftwerke davon ausgegangen, dass der Atomstrom nach Deutschland exportiert werden kann. Kristina Haverkamp, Geschäftsführerin der Deutschen Energie-Agentur dena, schließt das definitiv aus: "Deutschland hat nicht nur auf AKWs verzichtet, sondern auf Kernenergie insgesamt" - auch auf importierte. Warschaus Pläne zum Atomeinstieg sieht sie skeptisch: "Man ist sich in Polen wohl nicht bewusst, wie lange es dauert, welche Probleme es mit sich bringt, wie ein nötiges Endlager, und dass es am Ende viel mehr kostet, als in der Planung erfasst wurde."
Anwohnern wird Infrastruktur versprochen
Die Einwohner in den Gemeinden rund um das geplante AKW an der Ostsee sind gespalten: Viele, die Agrotourismus betreiben oder ein Sommerhaus besitzen, befürchten, dass die Attraktivität der Region verloren geht. Doch sie sind in der Minderheit. Umfragen zeigen, dass mehr 70 Prozent der ansässigen Bevölkerung das Atomkraftwerk befürworten. Eine Schnellstraße und ein Bahnanschluss sollen entstehen, Tausende von Arbeitsplätzen und ein enormer Geldzufluss werden versprochen. An Strom wird es nie fehlen.
Und an Touristen? Das Kraftwerk selbst, aber auch eine neue 300 Meter lange Mole und ein Jachthafen sollen weiterhin Besucher anziehen. So will man es hier zumindest glauben.